Zweigs "Sternstunden" in Salzburg als erratische Spurensuche
Die scheinbar letzten Besucher sind noch auf der verzweifelten Suche nach ihren Sitzplätzen, während das Heimatlosenorchester München-Rio-Addio bereits musizierend durch die Gänge wandert. Im schicken Premierengewand stolpern sie schließlich auf die Bühne und blicken sich neugierig um in einem Setting, das an ein Museumsdepot erinnert. Auf hohen Schwerlastregalen stapeln sich aus Styropor gefertigte Artefakte wie ein Kapitell, eine Kanone oder ein Obelisk. Staunend wie Touristen im falschen Museum streunen die sechs Besucherinnen und Besucher herum, berühren die historischen Stücke und murmeln einander Unverständliches zu. Derart beginnt der eineinhalbstündige, pausenlose Abend, den die Festspiele mit dem Residenztheater München koproduziert haben.
Die größte Rolle spielen dabei die Lautsprecher: Aus ihnen erklingen jene Textfetzen, die der Regisseur Zweigs berühmter Sammlung historischer Miniaturen entnommen hat. Und zwar immer dann, wenn sich die Schauspieler besonders Mühe geben, etwa wenn sie in ein Kanonenrohr krabbeln, ein riesiges Wagenrad zum Rotieren bringen oder das Tiefseekabel entrollen. Begleitet werden sie dabei - mal auf der Bühne, mal aus dem Off - von dem Quartett aus vier Bläsern und einem Gitarristen, das sowohl österreichische als auch brasilianische Volksmusik zum Besten gibt und auch mal - wenn auch nur für einen kurzen Moment - Händels "Messiah" anstimmt, dem Zweig einen der insgesamt 14 im Laufe seines Lebens zu den "Sternstunden" hinzugefügten Texte gewidmet hat.
Auch wenn Zweig sich in seinem 1927 erstmals veröffentlichtem Lebensprojekt oft tatsächlich nur kurzen, weltverändernden Momenten - die oft nur wenige Minuten dauerten - widmete, fällt Thom Luz' rigorose Reduktion zu radikal aus. Noch bevor man wirklich erfasst, in welcher der insgesamt 14 Szenen man sich nun befindet, ist sie schon wieder vorbei. Ohne Unterlass wuseln die Besucher durch das Archiv, ziehen mal dieses, mal jenes Exponat hervor, wuchten die Lautsprecher über die Bühne oder werfen einander zerknüllte Blätter zu, die sich als Zweigs Tagebuchseiten und Briefe entpuppen, aus denen Vincent Glander, Evelyne Gugolz, Isabell Antonia Höckel, Steffen Höld, Nicola Mastroberardino und Barbara Melzl vortragen.
Hier gelingen dann auch die stärksten, intimsten Momente des Abends: Anhand von Zweigs Aufzeichnungen - beginnend mit dem 18. Februar 1934 in Salzburg, wo er von der Durchsuchung seines Hauses auf dem Kapuzinerberg berichtet - werden die Exiljahre des jüdischen Schriftstellers aufgerollt, in denen er über London und New York bis nach Brasilien reist, wo er schließlich seine letzten zwei Lebensjahre verbringt. Dazwischen rauschen immer wieder Zeilen aus der "Weltminute von Waterloo", "Die Eroberung von Byzanz" oder das "Genie einer Nacht" durch die Lautsprecher, denen die Schauspieler wie im Fiebertraum lauschen und Requisiten mal spielerisch, mal euphorisch durch die Gegend tragen.
"Aber jetzt heißt es nur, die Zeit zu überstehen", schreibt Zweig in seinem brasilianischen Exil, während der Weltkrieg in Europa tobt. Nicht wenige Zuschauer konnten sich da trotz der inhaltlichen Tragik ein Seufzen nicht verkneifen und blickten demonstrativ auf die Uhr. Das anfängliche Staunen über das assoziative Chaos auf der Bühne weicht im Laufe des Abends einer ratlosen Langeweile. Bis kurz vor Schluss, wo Isabell Antonia Höckel in rotem Samtkleid einen Styroporbrocken erklimmt und auf Portugiesisch Auszüge aus jenen Interviews zum Besten gibt, in denen sich brasilianische Wegbegleiter nach Zweigs Tod an ihre Begegnungen mit dem Schriftsteller erinnern und das Bild eines am Exil zerbrochenen Mannes zeichnen.
In der Schlussszene verschränkt Luz schließlich die Beschreibung von Zweigs Sterbezimmer mit den letzten Momenten Ciceros, der sich - müde von der Flucht - seinen Mördern stellt. Abwechselnd legen sich die Schauspieler auf eine Bahre, während jeweils ein anderer aus einem Buch vorträgt. Als würden die Toten nur sanft in den Schlaf begleitet. Ein packendes Ende für einen Abend, den man nach dem Aufwachen am nächsten Tag nur für einen konfusen Traum halten könnte. Freundlicher Applaus und vereinzelte Buh-Rufe beendeten den langen kurzen Theaterabend.
(Von Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - Salzburger Festspiele: "Sternstunden der Menschheit" nach Stefan Zweig. Koproduktion mit dem Residenztheater München. Regie: Thom Luz, Musikalische Leitung: Mathias Weibel, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme: Tina Bleuler. Mit Vincent Glander, Evelyne Gugolz, Isabell Antonia Höckel, Steffen Höld, Nicola Mastroberardino und Barbara Melzl. Heimatlosenorchester München-Rio-Addio: Marion Dimbath, Ludwig Maximilian Himpsl, Henrique de Miranda Rebouças und Marcio Schuster. Weitere Termine: 29. und 30. Juli, 1., 2., 4., 6. und 8. August. www.salzburgerfestspiele.at)
Zusammenfassung
- Thom Luz inszeniert Stefan Zweigs 'Sternstunden der Menschheit' bei den Salzburger Festspielen als erratische Spurensuche.
- Die Premiere fand am Samstag im Landestheater statt und wurde als 'Schutthaufen der Geschichte' beschrieben.
- Das Bühnenbild erinnert an ein Museumsdepot mit aus Styropor gefertigten Artefakten, während Lautsprecher Textfetzen aus Zweigs Sammlung historischer Miniaturen spielen.
- Zweigs Exiljahre und seine letzten Lebensjahre in Brasilien werden thematisiert, begleitet von österreichischer und brasilianischer Volksmusik.
- Die Schlussszene verknüpft Zweigs Sterbezimmer mit den letzten Momenten Ciceros, was den Abend mit freundlichem Applaus und vereinzelten Buh-Rufen beendet.