Wiener Festwochen zeigen sich "reframed"
Am 26. August beginnen die Wiener Festwochen. In früheren Zeiten wäre so eine Aussage undenkbar gewesen. Früher - das heißt: vor Corona. "Seit wir Ende Februar unser Programm vorgestellt haben, ist viel passiert. Es war ein langer und schwieriger Weg - und ist es noch immer", sagte Intendant Christophe Slagmuylder am Montag kurz vor Start der "reframed"-Ausgabe vor Journalisten.
Statt vom 15. Mai bis 21. Juni finden die Festwochen 2020 nun also von 26. August bis 26. September statt - mit deutlich weniger Produktionen vor deutlich weniger Publikum. Er habe in den vergangenen Wochen sehr viel Zeit in Österreich verbracht und "versucht, ohne Kunst zu leben", erzählte Slagmuylder. Naturgemäß kann das auf Dauer nicht klappen. Deswegen sei er "sehr glücklich", dass man diese elf Programmpunkte zeigen könne, die nicht ganz zufällig ausgesucht wurden, sondern großteils die gegenwärtige Situation reflektieren. Denn diese Krise stelle nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kunst vor große Herausforderungen, "und viele davon sind neu für uns". Zu den fundamentalen Fragen, die nun aufgeworfen würden, zähle jene nach Bedeutung und Relevanz von Kunst in der Gesellschaft. "Wir alle müssen jetzt Antworten darauf geben."
Für Slagmuylder ist eine der Antworten das Insistieren auf der Einmaligkeit von Livekunst und die einzigartige Bedeutung der Bühne als Ort des unmittelbaren Geschehens. Ganz ähnlich formulierte es wenig später die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker, die mit der Uraufführung ihres Solos "Goldberg Variationen" am Mittwoch in der Halle E des Museumsquartiers die "reframed"-Ausgabe eröffnen wird: "Wir wollen nicht einsam vor Bildschirmen enden. Bildschirme erzeugen Distanz."
"Es wird kein Festival sein, wie wir es kennen", sagte der Festwochen-Intendant, aber mit dieser ersten Möglichkeit, seit März in Wien internationale Künstler in einem großen Haus vor großem Publikum zeigen zu können, werde auch eine Signalwirkung angestrebt. Gleichzeitig räumte er ein, dass die Zukunft der Wiener Festwochen in einem bewussteren, nachhaltigeren Austausch von lokalen und internationalen Künstlern bestehen könnte, etwa in Form von mehr und längeren Residenzen. "Es ist aber wichtig, dass die Wiener Festwochen ein internationales Festival bleiben."
De Keersmaeker zeigte sich dankbar und glücklich, ihre neue Arbeit in Wien vorstellen zu können, wo ihre Compagnie Rosas 1983 ihren ersten Auftritt außerhalb von Brüssel absolvierte und wo sie mit dem Festival Impulstanz eine lange und intensive Geschichte verbinde. Die Arbeit an den "Goldberg Variationen" habe sie im Jänner in New York City begonnen, bald nachdem sie nach Brüssel zurückgekehrt war, hätte innerhalb von wenigen Tagen der Probebetrieb komplett heruntergefahren werden müssen. "Für uns war es anders als alles, was wir bisher erlebt haben. Es waren Bewegungen wie auf Sand." 120 Vorstellungen hätten die Rosas seither absagen müssen, den Einnahmenausfall der Compagnie, die ihr Budget zu 75 Prozent selbst erwirtschaftet, bezifferte sie auf 1,5 Mio. Euro. Die Geschäftsmodelle im Kunst- und Kulturbetrieb stünden auf dem Prüfstand, gleichzeitig hätten die Politiker "deutlich gemacht, wo ihre Prioritäten liegen".
Die Coronakrise sieht die Choreografin symptomatisch: "Diese Krise ist Teil einer großen Krise in unserer Beziehung zur Natur. Wenn du deine Umwelt zerstörst, dann zerstörst du dich selbst. Covid ist Klimawandel in unseren Körpern." Ihr Ausblick fiel nicht allzu optimistisch aus. "Die Zukunft ist unsicher. Ich bin beunruhigt, was sie bringen wird. Wir befinden uns jetzt an einem kritischen Punkt, der zeigen wird, wohin es in den nächsten Monaten gehen wird." Auch in ihrem eigenen Leben sieht sich die Belgierin an einem speziellen Punkt angelangt. Im Juni ist sie 60 Jahre alt geworden. "Es ist nicht gerade so, dass ich mein Begräbnis vorbereite, aber der Körper ist anders, die Bewegungen sind anders." Gleichzeitig seien es nun 50 Jahre, dass sie tanze. "Ich feiere quasi meine Goldene Hochzeit mit dem Tanz."
Dass sie sich erneut mit Johann Sebastian Bach auseinandergesetzt hat, erklärte sie mit der vielfältigen Faszination seiner Musik: Struktur, ohne systematisch zu sein, immer mit Bewegung verbunden. "Er macht uns immer bewusst, woher wir kommen und wohin wir gehen." Tiefe Reflexion und pure Freude, Trauer und Heilung: "Von allem, was Kunst ausmacht, ist viel in der Musik von Bach zu finden."
Mit Heavy Metal hat sich dagegen der Komponist Bernhard Gander auseinandergesetzt und im Rahmen eines Kompositionsauftrags des Ensemble Modern einen Metal-Drummer und eine Singstimme einbezogen. "Ich habe mir die Frage gestellt, wie ich meine Lieblingsmusik mit meinem Handwerk zusammenbringen kann", erzählte der 1969 in Lienz Geborene, dessen Stück "Oozing Earth" am 13. September in der Halle E vor einem Auftritt der US-Gruppe Gravetemple aufgeführt wird. Die Zusammenarbeit sieht nun folgendermaßen aus: "Das Orchester spielt genau nach Noten. Für Drums und Singstimme ist nichts fixiert außer Anfang und Ende." Inhaltlich gehe es um Endzeitliches: Er habe sich einen Klang vorgestellt, "wie die Erde, die krank ist und anfängt zu heulen und zu weinen. Die Klimakrise passt leider gut ins Konzept hinein." Textlich habe er sich an der Bibel orientiert, namentlich an der Apokalypse...
(S E R V I C E - www.festwochen.at)
Zusammenfassung
- Am 26. August beginnen die Wiener Festwochen.
- Denn diese Krise stelle nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kunst vor große Herausforderungen, "und viele davon sind neu für uns".
- "Es ist aber wichtig, dass die Wiener Festwochen ein internationales Festival bleiben."
- Die Geschäftsmodelle im Kunst- und Kulturbetrieb stünden auf dem Prüfstand, gleichzeitig hätten die Politiker "deutlich gemacht, wo ihre Prioritäten liegen".