Wiener Festwochen gingen mit Kartonhausbau in zweite Runde
Kartonhausbau ist eher in Kinderzimmern als auf Theaterbühnen beheimatet. Die vom Zirkus kommende Performerin machte daraus im Auftrag der documenta 2017 in Kassel ein symbolisch hoch aufgeladenes Drama, einen Kraftakt zwischen Show und Heimwerkertum. Als martialische Comic-Kriegerin kostümiert, bastelt sie aus vorgestanzten Kartonplatten (quasi Kartonella statt Barbarella) mit Paketband und ein paar wie Speere wirkenden Stütz-Stangen mit heldischen, herrischen Gesten ein großes Haus, aus dem sie am Ende mittels Motorsäge kurzerhand einen griechischen Tempel schnitzt. Ein Parthenon aus Pappe, aus Karton. Ein Karthenon.
Hat man eine knappe Stunde der Baumeisterin bei ihren theatral aufgeladenen und künstlich mit Suspense angereicherten Klebe-Aktionen zugesehen, folgt innerhalb weniger Minuten die Katastrophe. Vom Bühnenhimmel fällt plötzlich dichter Regen. Feuchtigkeit hält der dickste Karton auf Dauer nicht aus. Die Bühne wird geflutet. Erinnerungen an die Überschwemmungen dieses Sommers werden wach, die diesen Untergang Europas nicht nur sinnbildlich, sondern auch buchstäblich vorstellbar machten. Es bleibt der stärkste Moment in der Performance, die ohne Pause zum nächsten Kapitel übergeht und am Ende drei doch ziemlich lange Stunden gedauert haben wird.
Aus dem Bühnennebel taucht ein seltsamer skulpturaler Aufbau auf, in dem eine weiß gewandete Sängerin wie eine Priesterin beschwörende Töne von sich gibt. Aus dem schwebenden Riesen-Donut wird durch den flinken Einsatz einer vierköpfigen Helfer-Truppe, die in der Folge noch viele Kalorien verbrauchen wird, ein ringförmiges Fundament, auf dem das nächste Bauprojekt entsteht. Nach dem "Maison Mère" folgt nun der "Temple Père". Nichts weiter als der Turm zu Babel ist das Vorbild zu dem Gebäude, das aus vorgefertigten Holz-Bauteilen in drei Etagen an die zehn Meter in die Höhe wachsen wird, stets begleitet von eigenartigen, mitunter isländischen Gesängen und Beschwörungen, die einem bald schon ein wenig auf die Nerven gehen. Der Blick auf die an den Bühnenrändern gestapelten Bauteile lässt ahnen: Das wird noch lange dauern. Es wird lange dauern - obwohl der Bautrupp an diesem riesigen Kartenhaus bewundernswert emsig und präzise werkt. So werden wohl in China Hochhausstädte in Rekordtempo in die Höhe gezogen. Und natürlich ist das Ganze ein Sinnbild von Kapitalismus und ewigem Wachstumsstreben.
Spätestens als es auf Deutsch heißt: "Auf! Lasset uns einen Turm bauen, dessen Spitze bis an die Sterne reiche!", beginnt man zu grübeln: Wie wird Phia Ménard den Zusammenbruch dieses imposanten Bühnenaufbaus bewerkstelligen, ohne das Publikum zu gefährden? Dem Turm zu Babel war bekanntlich kein dauerhaftes Leben beschieden. Doch Ménard entscheidet sich anders: Während das Parthenon, das heute noch als das eindrucksvollste Bauwerk der Antike in den Himmel ragt, auf ihrer Bühne aufweicht und einknickt, lässt sie den Turm stehen. Stattdessen klettert eine nackte Performerin vom Turm hinunter zu den Zuschauern. Sie bespritzt einen großen, durchsichtigen Plastikvorhang, der plötzlich die Bühne von der Tribüne trennt, mit einer braunen Flüssigkeit. Das ist dann wohl "La Rencontre Interdite", die "verbotene Begegnung" und der rätselhafte und etwas enttäuschende Schlusspunkt eines Abends der "unmoralischen Geschichten", dessen erste Stunde die stärkste war.
Zweimal ist die Performance noch in der Halle E zu sehen, und mit gleich zwei Premieren geht das Festwochen-Programm heute schon in die nächste Runde.
(S E R V I C E - Phia Ménard / Compagnie Non Nova: "La Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe). Partie 1 : Maison Mère, Partie 2 : Temple Père, Partie 3 : La Rencontre Interdite", Von und mit Fanny Alvarez, Rémy Balagué, Inga Huld Hákonardóttir, Erwan Ha Kyoon Larcher, Elise Legros, Phia Ménard. Halle E im MuseumsQuartier, Weitere Vorstellungen: 25., 26.8., 19 Uhr, www.festwochen.at)
Zusammenfassung
- Die Wiener Festwochen wurden gegründet, um das Außergewöhnliche in das an sich bereits reiche Kulturangebot der Bundeshauptstadt zu bringen.
- Der gestrige Auftakt zur coronabedingten zweiten Etappe des Festivals war wahrhaft außergewöhnlich.
- Was die französische Künstlerin Phia Ménard in ihrer "Trilogie des Contes Immoraux" im Museumsquartier auf die Bühne bringt, hat man noch nicht gesehen.
- Nach dem "Maison Mère" folgt nun der "Temple Père".