Viele Fotos, wenig Tiefenschärfe: "Faust" im Volkstheater
Viel Gewese wurde im Vorfeld um das Konzept gemacht, Marcel Urlaub als Live-Fotograf in das Geschehen einzubinden. Der Bühnenraum werde dadurch "zum Lichtraum und zur Dunkelkammer gleichermaßen", hieß es. Im "Vorspiel auf dem Theater" werden gleich einmal ein paar Schnappschüsse ins Publikum groß auf die Bühne projiziert. Dann weiß man: Die Zahl der Maskenträger ist überschaubar. Und: Claus Peymann ist auch hier. Ansonsten wird mit Blitz und Klick eher abgelenkt - was aber nicht allzu lange Störfaktor bleibt. Denn teilweise wird hinter der Bühne bzw. in dem sich drehenden Kubus, der nie wirklich bespielt wird, fotografiert bzw. offenbar auf vorbereitetes Bildmaterial zurückgegriffen. Insgesamt erfüllt hier die Fotografie kaum andere Funktionen als der Einsatz von Video bei Frank Castorf.
Ansonsten lautet das Konzept: multiple Hauptfiguren, dafür radikaler Verzicht auf Nebenhandlungen. Echte Spielszenen, in denen miteinander agiert wird, gibt es kaum. Deswegen wird eine fiese Szene, in der der Theaterdirektor (Uwe Schmieder) die Darstellerin des Gretchen (Hasti Molavian) demütigt, indem er sie unzählige Male "König von Thule" singen lässt, zu einem der Höhepunkt des Abends, an dem der "Faust"-Text selbst erstaunlich wenig zu sagen hat. Die Standmikrofone an der linken und der rechten Bühnenseite werden von Faust (Andreas Beck, Claudio Gatzke und Frank Genser) und Mephisto (Lavinia Nowak, Uwe Rohbeck, Gitte Reppin) immer wieder verwendet. Die Verse wirken jedoch aufgesagt und bleiben Papier. Dafür ist Fausts Liebesnacht eine fotografisch dokumentierte Orgie mit gleich vier Gretchens (Hasti Molavian, Lavinia Nowak, Gitte Reppin und Friederike Tiefenbacher). Die eigentliche Gretchen-Tragödie inszeniert Regisseur Voges kaum.
Was aber dann? Vorwiegend ästhetische und theoretische Überlegungen. "Das ist die Zeit. Und das ist die Aufnahme der Zeit" muss man sich zur Einblendung von fotografischen Aufnahmen nervend oft als Merksatz vorsagen lassen. Erkenntnisgewinn bringt es keinen. Dafür wird es kostümtechnisch (Mona Ullrich) immer wieder bunt bis grell, muss das Geschmeide, mit dem Faust Gretchen betört, eine massive Protz-Gold-Kette sein, wie man sie als Statussymbol millionenschwerer Gangsta-Rapper kennt, und gibt's zum Kostümball, in dem sich Cowboys, Krankenschwestern und Servierpersonal tummeln, zünftige Rockmusik-Anklänge. Einmal macht die Partygesellschaft auch Abstecher nach Hollywood, an die New Yorker Börse, nach Miami Beach, in eine zerschossene Häuserzeile oder nach Schönbrunn. Die Fotografie macht's möglich.
Warum ihn "Faust I" so brennend interessiert hat, mag Voges in seiner bei der Premiere freundlich, doch nicht enthusiastisch aufgenommenen Inszenierung nicht zu vermitteln. Aber am Ende hat er doch eine Ahnung, "Faust II" (der von der Hybris des Menschen und der Ausbeutung der Welt handelt) wäre vielleicht das passendere Stück gewesen, und bringt einen kleinen Appendix daraus. Im fünften Akt von "Faust II" treten "vier graue Weiber" auf, sie heißen Mangel, Schuld, Sorge und Not. Auf der ganzen Welt dokumentieren Fotografen tagtäglich, was in ihren Namen angerichtet wird. Auf der Bühne schweigt nun jedoch der Auslöser. Stattdessen wird Uwe Schmieder als Märtyrer (oder als Erlöser?) in die Höhe gezogen. Es ist bald aus mit den Menschen. Und ein letztes Mal heißt es noch: Bitte lächeln!
(S E R V I C E - "Faust" von Johann Wolfgang von Goethe, Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüm: Mona Ullrich, Musik: Paul Wallfisch, Mit: Andreas Beck, Claudio Gatzke, Frank Genser, Hasti Molavian, Lawinia Nowak, Gitte Reppin, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher, Live-Fotografie: Marcel Urlaub. Volkstheater Wien, Nächste Vorstellungen: 28.9., 2., 15.10., Karten: 01 /52 111-400, www.volkstheater.at)
Zusammenfassung
- "Verweile doch? Du bist so schön?" Ganz ehrlich: Nach zwei Stunden zehn Minuten möchte man am Samstagabend im Volkstheater den Augenblick nicht unbedingt festhalten. Da ist man ganz froh, dass diese "Faust"-Inszenierung, aus der man nie ganz schlau wurde, und die Intendant Kay Voges zwischen Partygetümmel und Fotostudio ansiedelt, auch einmal ein Ende hat. Immerhin ist auch die Schlusspointe von Goethe: "Mehr Licht!"