Theater Drachengasse setzt mit "Der Weg zurück" auf Dystopie
Es ist eine berührende Szene, wenn der junge Vater seine Tochter im Arm wiegt und seine Erzählung immer wieder mit den beruhigenden Worten "Du bist in Sicherheit" unterbricht. Das ist schließlich ein Wunschdenken, denn er steht mit seinem via künstlicher Befruchtung entstandenen Nachwuchs alleine da. Die Mutter ist während der Geburt verblutet, der Grund ist ein teures, aber schief gegangenes Extra im Rahmen der IVF-Behandlung: das Anritzen der Gebärmutter, damit sich der Embryo besser einnisten kann. Der wissenschaftliche Fortschritt in der Reproduktionsmedizin wird so zu seinem ersten Feindbild, dem alsbald viele - unter anderem Handy-Strahlung und Mikrowellen - folgen werden.
Schnitt. Die Tochter ist erwachsen geworden und führt jene Bewegung fort, die ihr Vater damals begründet hat: Die "Regressionisten" haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Rad der Zeit zurückzudrehen und jeglichem Fortschritt abzuschwören, wobei sie nicht davor zurückschrecken, Universitäten, Biotech-Labore oder TV-Sender in Brand zu setzen und die Eliten zu ermorden. Es ist ein langer, beschwerlicher Kampf, den schließlich auch noch ihre Zwillinge und deren Nachwuchs fortführen werden. So lange, bis nur mehr die Sprache übrig bleibt, die man so weit vereinfacht, bis nur mehr einsilbige Wörter erlaubt sind und eine sinnvolle Kommunikation unmöglich geworden ist.
In seinem Text setzt Kelly weniger auf Tiefe denn auf Plakativität, weniger auf Analyse denn auf Demonstration. Seine Figuren, die allesamt zur selben Familie gehören, folgen blind jenem Vorhaben, das sich der alleinerziehende Vater einst in den Kopf gesetzt hat. Das mag auf den ersten Blick oberflächlich wirken, korrespondiert jedoch durchaus mit gesellschaftlichen Entwicklungen der jüngsten Zeit, in der es oft nicht mehr so wichtig scheint, Zusammenhänge und Hintergründe verstehen zu wollen.
Im Theater Drachengasse sind mit Alicia Peckelsen, Karoline-Anni Reingraber, Lukas David Schmidt und Sebastian Thiers vier Schauspielerinnen und Schauspieler angetreten, diese inzestuöse Untergangsfamilie in wechselnden Rollen und mit viel Körpereinsatz in den Abgrund zu reiten. Im Zentrum der Bühne von Sophie Baumgartner steht ein halbrundes Podest, über dem eine Schlinge baumelt, an der sich die Spieler immer wieder wild durch die Luft wirbeln, wenn sie nicht gerade über zwei Feuerleitern in die Fenstervorsprünge klettern, um sich im Kampf gegen den Fortschritt zu verschanzen. Die stetige Steigerung ihres Wahns ist dabei fast mit Händen zu greifen und entwickelt im Laufe des zweistündigen, pausenlosen Abends eine erschreckende Sogwirkung.
Während András Dömötör das Geschehen bei der Österreichischen Erstaufführung am Schauspielhaus Graz im Herbst 2022 in einem überdimensionalen Chemiebaukasten spielen ließ, in dem die Vorgänge in der mit Spielzeug gefertigten neuen Miniaturwelt mit der Handkamera in den dunklen Bühnenraum übertragen wurden, setzt Schüddekopf auf helle Ausleuchtung der Charaktere, deren geistiger Verfall im Laufe ihrer Rückwärtsrevolution sicht- und spürbar wird. Am Ende, als jeglicher Entdeckergeist versiegt zu sein scheint, bringt ausgerechnet eine Lupe in der Sonne den Wendepunkt. Und den Drang, die Silbenanzahl der Wörter wieder anzuheben. Herzlicher Applaus für einen rasanten Abend, an dem das Lachen oft im Hals stecken bleibt.
(Von Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - "Der Weg zurück" von Dennis Kelly im Theater Drachengasse. Deutsche Übersetzung von John Birke, Regie: Sandra Schüddekopf, Bühne und Kostüme: Sophie Baumgartner. Mit Alicia Peckelsen, Karoline-Anni Reingraber, Lukas David Schmidt und Sebastian Thiers. Weitere Vorstellungen: Dienstag bis Samstag bis zum 25. Mai, keine Vorstellungen am 30. April, 8. und 9. Mai. Tickets unter www.drachengasse.at)
Zusammenfassung
- 'Der Weg zurück' von Dennis Kelly, inszeniert von Sandra Schüddekopf im Theater Drachengasse, thematisiert die dystopische Vision einer Gesellschaft, die Wissenschaft und Technik ablehnt.
- Die Bühne, gestaltet von Sophie Baumgartner, unterstützt mit einem halbrunden Podest und einer Schlinge die düstere Atmosphäre des Stücks.
- Die Schauspieler, darunter Alicia Peckelsen und Sebastian Thiers, überzeugen durch ihren intensiven körperlichen Einsatz.