Manifesta in Prishtina: Appell zur europäischen Integration
"Ist das eine Sünde, dass ich als Albaner im Kosovo geboren wurde?", fragt Driton Hajredini. Der Künstler hatte im deutschen Münster 2004 mit versteckter Kamera seine eigene Beichte mitgefilmt und sich darüber beklagt, dass er als Kosovare viel Geld für Visas ausgeben müsste, um Ausstellungen im Ausland zu besuchen. Eine Sünde sei die Geburt im Kosovo freilich nicht, klärte ihn ein katholischer Geistlicher auf: "Man könnte sich aber fragen, ob das eine Strafe ist."
Für Menschen und Künstler aus dem Kosovo hat sich seit fast zwei Jahrzehnte später nur wenig verändert - die Forderung nach einer Visa-Liberalisierung war am Donnerstag daher eine zentrales Thema bei Eröffnungspressekonferenz der Manifesta. Hajredinis Videoarbeit ist gerade auch deshalb eines der Schlüsselwerke der Hauptausstellung im Grand Hotel Prishtina: Auf sieben Stockwerken versuchen die Kuratoren Catherine Nichols und Carlo Ratti unter dem Titel "Das große Schema der Dinge" eine große Bestandsaufnahme.
Die Fotografin Majinda Hoxha hat etwa Veteranen des ehemaligen Spitzenhotels aus jugoslawischen Tagen einfühlsam porträtiert, sechs junge kosovarische Künstlerinnen und Künstler schlagen eigene Gemälde vor, die nach Abschluss der überfälligen Renovierung in den Zimmern hängen sollten. Ehedem hatte das Haus die größte Kunstsammlung des Landes beherbergt - die Werke sind nach der Privatisierung des Hotels 2008 großteils Teil verschollen.
Das Kuratoren-Duo beschäftigt sich freilich nicht nur mit dem unmittelbaren Ausstellungsort: Zum sperrig formulierten Gesamttitel dieser Manifesta "It matters what worlds world worlds: how to tell stories otherwise", ein Verweis auf ein Zitat der US-amerikanischen Feminismusforscherin Donna Haraway, lassen sie Künstlerinnen und Künstler über relevante Themen der Region erzählen, die Hauptschau ist in Wandel, Migration, Wasser, Kapital, Liebe, Ökologie und Spekulation gegliedert.
Vielfach sind in den Arbeiten dabei Echos der Jugoslawienkriege zu vernehmen: So analysierte die bosnische Künstlerin Lala Raščić für ihre Videoarbeit "Konfliktsyntax. Punkt, Punktpunkt" Interviews von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit Hilfe von Computerlinguistik. Ihre kosovarische Kollegin Argjirë Krasniqi rekonstruierte auf Grundlage von Recherchen Alltag und Architektur im unweit von Prishtina gelegenen und nun teils verfallenen Dorf Janjeva - hier lebten bis in die späten Neunzigerjahre vorwiegend Kroaten.
An Auswirkungen von Kriegen in einer anderen Weltgegend erinnert schließlich Tuan Andrew Nguyen: Der vietnamesische Künstler kontrastiert in einem Zweikanalvideo Propagandafilme vom heldenhaften Abschuss schwerer Geschosse mit dokumentarischen Videos der gefährlichen Bergung von Blindgängern.
Angesprochen werden auch weitere Sujets, die vielfach nur auf den ersten Blick nichts mit tragischen Ereignissen des späten 20. Jahrhunderts zu tun haben. Der Kosovare Dardan Zhegrova installierte in einem zur Renovierung vorbereiteten Raum überdimensionale Voodoopuppen, die nach Mitleid heischen, gleichzeitig aber schwere Traumata vermuten lassen. Erzählt wird aber auch von der albanischstämmigen Mutter Teresa, die gerade im Kosovo besonders verehrt wird. Das hat insbesondere mit dem politischen Engagement der Friedensnobelpreisträgerin für den Landstreifen zu tun, der erst durch die NATO-Intervention des Jahres 1999 de facto von Restjugoslawien abspaltete wurde und 2008 seine insbesondere von Serbien nicht anerkannte Unabhängigkeit proklamierte.
Mit einem massiven Fokus auf lokale und regionale Kunst - 40 Prozent der mehr als 100 Künstlerinnen und Künstler haben Wurzeln im Kosovo, weitere 25 Prozent stammen aus der Nachbarschaft am Balkan - brechen die Kuratoren mit der bisherigen Manifesta-Tradition einer breiteren internationalen Kunstauswahl. Die Qualität der ausgewählten Werke gibt ihnen Recht: Gerade im Kosovo, dem Land mit der jüngsten Bevölkerung Europas, hat sich in den letzten Jahren eine virulente Kunstszene formiert, die auch internationale Ambitionen verfolgt. Sie teilt dieses Bestreben mit den Regierenden des Kosovo, die die Wanderbiennale als Aufruf verstehen, dringend die europäische Integration voran zu treiben. Angesichts des Krieges in der Ukraine und erneuten Versuchen, mit Waffengewalt Grenzen zu verschieben, kommt dieser Appell mit zeitgenössischen Kunst zu einem richtigen, aber auch kritischen Zeitpunkt.
(S E R V I C E - https://manifesta14.org)
Zusammenfassung
- Mit einem Fokus auf Kunst vom Westbalkan schreibt die 14. Ausgabe der Manifesta, die am Freitagabend in der kosovarischen Hauptstadt Prishtina eröffnet, nicht nur regionale Kunstgeschichte: Die Wanderbiennale lässt sich 2022 als lautstarker Appell verstehen, sich dringend mit der Region und ihren europäischen Integrationsambitionen zu beschäftigen. Ohne dass dies freilich geplant war, erinnert diese Botschaft an eine diesbezügliche Forderung der österreichischen Außenpolitik.