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Sprache statt Spiel: Kristóf-Romane im Akademietheater

Ágota Kristófs Roman "Das große Heft" ist in den vergangenen Jahren immer wieder auf die Bühne gebracht worden - als Parabel auf die Gefahr der Verrohung des Menschen, der ohne moralische Standards auf sich alleine gestellt ist. Dass die Geschichte der Zwillingsbrüder, die im Krieg bei ihrer lieblosen Großmutter aufwachsen, auch anders gelesen werden kann, zeigt eine eineinhalb Jahre alte Produktion des Schauspiel Köln, die seit Samstag im Akademietheater zu sehen ist.

Regisseurin Mina Salehpour bringt die ganze Romantrilogie der 1935 in Ungarn geborenen und 2011 in der Schweiz gestorbenen Autorin auf die Bühne, also neben dem Debütroman "Das große Heft" (1986) auch "Der Beweis" (1988) und "Die dritte Lüge" (1991). Thematisch und motivisch weitet sie dadurch stark den Blick, in der Bühnenbearbeitung fokussiert sie im Gegenzug stark. Sie strafft die Handlung und verzichtet zur Gänze auf deren Darstellung. Der knapp zweistündige pausenlose Abend gleicht über weite Strecken einem Hörspiel.

Es beginnt mit einem Mauerfall, kein schlechtes Bild für die Autorin, die 1956 beim ungarischen Volksaufstand aus ihrem Land floh. Im Akademietheater sind es Bruno Cathomas und Seán McDonagh als Zwillingspaar Claus und Lucas, die das schwarze Stein-Ungetüm zum Einsturz bringen und in der Folge aus den Trümmern ihre eigene Geschichte rekonstruieren. So wie sich die beiden Neunjährigen, die im Krieg bei der Großmutter am Land abgestellt werden, um in der Stadt nicht in Bombenhagel oder an Hungersnot zu sterben, nur als Doppelexistenz begreifen, so wird lange auch gesprochen: chorisch nämlich.

Das ist ein guter Kniff, der aber allmählich zu Ermüdungserscheinungen und manchen Holprigkeiten führt. Die düstere Geschichte dieses Aufwachsens einer "Jugend ohne Gott" zwischen Opposition gegen die "Hexe" Großmutter und kindlicher Weltaneignung, vermittelt sich freilich auch so - durch Sprache statt Spiel. Das Trümmerfeld kann zu Acker, Ruinenlandschaft oder Friedhof werden, eigentlich ist es unwichtig. Wichtig ist die Kraft der Erzählung, die durch den Tod der Eltern markante Wendungen erfährt.

Die Mutter wird in dem Augenblick, als sie mit der neugeborenen Schwester der beiden vor dem Haus der Großmutter vorfährt, von einer Bombe zerrissen, der Vater stirbt beim Versuch, mithilfe seiner beiden Buben die verminte Grenze zu überqueren. Einem Bruder gelingt die Flucht. Der andere bleibt zurück, schafft sich seine eigene, kleine Ersatzfamilie - und wartet auf die Rückkehr des Bruders.

Wie es ihm dabei das Herz zerreißt und die Sprache verschlägt - das spielt Seán McDonagh außerordentlich intensiv. Vergleichsweise nüchtern übernimmt Bruno Cathomas und führt die Sache mit Distanz zu Ende: Vielleicht ist an dieser dramatischem Geschichte doch nicht alles wahr - und vielleicht hat der Bruder nie existiert. Die Konfrontation der beiden Erwachsenen nach vielen Jahrzehnten setzt den traurigen Schlusspunkt: Lucas und Claus stehen einander gegenüber. Gehören sie zusammen - oder ist der eine bloß Erfindung des anderen?

Die bei der Wienpremiere freundlich aufgenommene Produktion ist ab sofort im Repertoire des Burgtheaters zu sehen.

(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - "Das große Heft / Der Beweis / Die dritte Lüge" nach den Romanen von Ágota Kristóf, Deutsch von Eva Moldenhauer und Erika Tophoven, Regie: Mina Salehpour, Bühnenbild: Andrea Wagner, Kostüme: Maria Anderski, Komposition und musikalische Einrichtung: Sandro Tajouri. Mit Bruno Cathomas und Seán McDonagh. Eine Produktion des Schauspiel Köln im Akademietheater, Nächste Vorstellungen: 23. Jänner und 1. Februar. www.burgtheater.at)

ribbon Zusammenfassung
  • Die Geschichte der Zwillingsbrüder Claus und Lucas, die im Krieg bei ihrer Großmutter aufwachsen, wird durch die Kraft der Erzählung vermittelt. Der Tod der Eltern bringt entscheidende Wendungen in die düstere Erzählung.
  • Die Produktion, die seit Samstag im Repertoire des Burgtheaters zu sehen ist, wurde bei der Wienpremiere positiv aufgenommen und hinterfragt die Realität der Brüder und ihre Existenz.