Soul und Jazz im Stadion? "The Boss" Springsteen kann sogar das
Wenn schon am Nachmittag die Prater-Hauptallee gesäumt ist mit Menschen in weißen T-Shirts, Camper aus Deutschland, der Slowakei, Ungarn und Tschechien versuchen, im Grünen einen (wahrscheinlich nicht legalen) Stellplatz zu finden und der ÖAMTC am Vormittag vor Staus warnt, dann ist Bruce Springsteen in der Stadt.
Rund 60.000 Menschen, jung und alt, aus Österreich und allen Nachbarländern, pilgerten ins ausverkaufte Ernst-Happel-Stadion, um Bruce Springsteen nach elf Jahren wieder in Wien zu erleben. Cowboyhüte und USA-Fahnen waren neben Alt-Hippies und jungen Hipster zugegen. Alle feierten sie gemeinsam den mittlerweile 73-jährigen Bruce, dem man seine rund 50-jährige Karriere im Rock-Olymp nur in Sachen Professionalität anmerkt.
Kleine Enttäuschungen, die eigentlich keine waren
Kleine Enttäuschungen gab es nur ganz zu Beginn und ganz am Ende. Während der ersten eineinhalb Nummern - "No Surrender" aus dem Jahr 1984 und das 2020 erschienene "Ghosts" - bekamen vor allem die hinteren Reihen im Stadion eher einen Soundbrei zu hören. Die leichte Brise, die die schwüle Sommernacht richtig angenehm machte, schien die Töne fortzutragen. Das Problem wurde schnell gelöst. Bruce Springsteens mal raue, mal zarte, mal tiefe, mal hohe Stimme war dann bis in die letzten Reihen perfekt zu hören. Jeder Klang des noch so kleinen Percussion-Instruments und jede Taste an Klavier und Keyboard fanden dann ihren von den Virtuosen der E-Street-Band bestimmten Weg.
Am Ende des rund dreistündigen Konzerts waren einige Fans traurig - aber nur, weil das Konzert eben vorbei war. Drei Stunden können verdammt schnell vergehen, wenn alle beteiligten - Publikum und Band - nach all den Jahren immer noch sichtlich Freude haben. Ja, jeder vermisste wohl den ein oder andern Song in der Setlist. Auf den Rängen fehlte einigen vor allem "Born In The U.S.A.", andere riefen nach "We Take Care Of Our Own". Aber selbst in drei Stunden bringt Springsteen eben nicht alle seine Hits unter.
Ein Abend als Hitparade
Dennoch war der Abend eine regelrechte Hitparade, die Springsteen, dem man trotz ausgedehnter Welt-Tournee keinerlei Erschöpfungserscheinungen anmerkte, nur selten für kleine Anekdoten unterbrach. Meist endete ein Song und schon wurde der nächste eingezählt. Springsteen, der trotz Hitze in dicken Blue-Jeans und roten Doc Martens auftrat, suchte die Nähe zu den Fans wie eh und je - beglückte einen Burschen mit seiner Mundharmonika und verteilte im Graben Plektrons, wofür er Küsse aus der tanzenden Menge erntete.
"The Boss" pflegt ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen treuen Anhängern und auch zu seinen Weggefährten. Die langjährige Freundschaft zu seinen Musikern - allen voran den Gitarristen Nils Lofgren und Steven Van Zandt alias "Little Steven" - war bis in die hintersten Reihen spürbar. Solos seiner Band und der mitgebrachten Bläser beobachtete Springsteen oft selbst wie ein Fan vom Graben aus. Die Musik stand an dem Abend im Vordergrund, jeder einzelne auf der Bühne ist Vollblutmusiker, dennoch gab es keine Ego-Shows. Solos, wie sie auch Springsteen auf seiner mit Gebrauchtspuren übersähten Gitarre gab, dienten nur der Dramaturgie der Songs, nie der Selbstinszenierung.
"Seid gut zu euch selbst"
Große Show braucht Springsteen nicht. Die Scheinwerfer setzten erst bei Dämmerung ein, blieben aber im Hintergrund, im Publikumsbereich blieb es hell. Auf den perfekt eingestellten Videowalls war bis hinten jede Mimik Springsteens zu erkennen. "Seid gut zu euch selbst, zu den Menschen, die ihr liebt und zur Welt. Genießt den Moment", war eine der wenigen Botschaften, die Springsteen abseits seiner Hymnen nach Wien mitbrachte. Um das Publikum zum Klatschen, Winken, Singen zu bewegen brauchte der "Boss" oft nur einen Blick. Vor allem in der letzten halben Stunde standen sogar jene Fans mit Sitzplätzen.
Springsteen hat Stadionrock perfektioniert und kann sogar noch einen draufsetzen. Bei ihm funktionieren sogar Soul, Blues und Jazz vor Massenpublikum, die von den Mitgebrachten Bläsern - allen voran vom Saxofonisten Jake Clemons - mit großer Liebe zum Detail und mit großen Respekt vor der Geschichte dieser Genres dargebracht wurden. Beim Commodores-Cover "Nightshift" und beim blusig-jazzigen "Kitty’s Back" ernteten Bläser und Background-Sängerinnen begeisterten Zwischenapplaus.
Highlight des Abends? - "Because the Night"!
Auch sonst hatte die Setlist, die 26 Songs umfasste, nur Höhen. Egal ob Ballade oder absoluter Welthit. Die Masse hing an Springsteens Stimme, Harmonika und Gitarre. Bei "Last Man Standing", das Springsteen seinem mittlerweile verstorbenen Freund George widmete, mit dem er mit 15 Jahren seine erste Band gegründet hatte, gab sich Springsteen nachdenklich.
Die neueren Gassenhauer wie "Mary's Place" oder "Wrecking Ball" funktionierten genauso wie die Evergreens "Born to Run", "Glory Days" oder "Dancing in the Dark". Zu einem der vielen Highlights des Abends zählte "Because the Night", das Springsteen einst gemeinsam mit Patti Smith geschrieben hat. Passend zum Text setzte just bei dem Song die Dämmerung ein.
Schlussendlich entließ der "Boss" sein Publikum denkbar romantisch, aber auch traurig - mit einer Akustik-Solo-Version von "I'll See You in My Dreams". Ein Song an einen Verstorbenen.
Es ist zu hoffen, dass es nicht wieder elf Jahre dauert, bis der "Boss" und seine brillanten Musiker, die immer noch mit so viel Herzblut bei der Sache sind, Wien beehren.
Zusammenfassung
- Jung und Alt feierte am Dienstag zusammen im Wiener Ernst-Happel-Stadion Bruce Springsteen und seine E-Street-Band plus Bläser.
- "The Boss" hat Stadionrock perfektioniert, ohne dafür eine große Show zu brauchen.
- Im Mittelpunkt standen die Musik und das Leben im Moment.