Ruth Beckermann: "Sexualität ist die Basis der Gesellschaft"
APA: Ich stelle Ihnen zum Auftakt die Frage, die Sie den Männern im Film stellen: Wie sehen Sie den "Mutzenbacher"-Roman heute?
Ruth Beckermann: Ich habe diese Frage nie gestellt. Und ich würde sie auch nicht stellen. Ich würde diese Frage auch nicht beantworten. Ich habe einen Film gemacht. Ich glaube aber, dass das Buch ein Teil der Wiener Kulturgeschichte und der Volkskultur ist. Deshalb lohnt es sich, das Buch zu lesen - und meinen Film anzuschauen.
APA: Seit wann begleitet Sie das Buch?
Beckermann: Als Wiener Kind kennt man das seit frühester Jugend - zumindest ist das bei fast allen Leuten, die ich kenne, so. Bis zu einer gewissen Altersstufe. Die unter 40-Jährigen kennen vielleicht den Namen noch, haben das Buch aber nicht gelesen. Die sind schon mit dem Internet aufgewachsen und haben sich dort ihre Informationen geholt.
APA: Was war für Sie der Impetus für das Filmprojekt: Über das Buch zu sprechen und sich dafür Männer einzuladen, oder mit Männern von heute über Sexualität zu sprechen und dafür das Buch als Vehikel zu verwenden?
Beckermann: Wahrscheinlich war es beides. Ursprünglich sollte es ein Film werden, der vom Buch ausgeht. Wir haben deshalb zunächst sehr breit recherchiert über das Buch, die Geschichte, also die Kehrseite des Fin de Siècle, und haben mit Germanisten und Prostituierten geredet. Dann habe ich, was ich sehr oft mache, die Recherche verdaut, um dann ein möglichst ökonomisches, konzises Konzept zu entwickeln. Und das war für mich die jetzige Form. Da ich annehme, dass es sich um eine Männerfantasie handelt - es ist ja anonym erschienen - hat mich interessiert, Männer von heute mit den Texten von damals zu konfrontieren. Ich wollte den Text als Trigger zu nehmen, um Männer über sich und Sexualität reden zu hören.
APA: Waren Sie von dem, was Sie erfahren haben, überrascht?
Beckermann: Man sagt ja so landläufig, dass Männer nicht über sich reden, während Frauen dauernd über sich und über Männer reden. Das stimmt nicht! Die Männer, die kamen, haben gerne und viel geredet. Überraschend war vielleicht, dass es so eine entspannte, freundliche Atmosphäre auch unter den Männern gab.
APA: Sie gruppieren ihre Gesprächspartner dabei meist in Duos. Weshalb wollten Sie nicht jeden einzeln haben?
Beckermann: Es gab ja auch verschiedene Konstellationen - manche sitzen alleine, einmal sogar vier auf einmal. Ich wollte das alles ausprobieren, aber es hat sich sehr schnell herausgestellt, dass die Zweierkonstellation die beste ist, weil sie die Möglichkeit bietet, mit mir zu sprechen, aber auch untereinander. Und da hat sich einige Male Interessantes entsponnen zwischen den beiden Männer, die ja in der Kombination völlig zufällig zusammentrafen.
APA: Das bedeutet, jedes Gespräch war für Sie selbst ein Blind Date?
Beckermann: Das war die Herausforderung und der Spaß. Die Männer kamen herein und ich musste schnell reagieren.
APA: Sie waren in Ihren bisherigen Filmen eine sehr politische Filmemacherin. Nun haben Sie mit der Sexualität das ultimativ Private in den Fokus genommen. Ist das Private politisch oder sehen Sie da eine Differenz?
Beckermann: Na, überhaupt nicht! Sexualität ist ein sehr wesentlicher Teil der Gesellschaftspolitik. Die Basis des Lebens und der Gesellschaft. Außerdem gibt es für mich in der Konzeption keinen Unterschied. Ich habe schon in "Jenseits des Krieges" anlässlich der Wehrmachtsausstellung mit Männern, die ich nicht kenne, gesprochen. Und damals waren die furchtbaren Fotos der Wehrmachtsverbrechen der Trigger. Das Kammerspiel ist vom Konzept her dasselbe.
APA: Zum Konzept gehört auch, dass Sie niemals zu sehen, sondern stets nur im Off zu hören sind. Weshalb?
Beckermann: Das Buch ist eine Fantasie über Frauen. Und ein gesprochener Text regt die Fantasie sehr viel mehr an als das, was man sieht. Wenn man nur eine weibliche Stimme hört kann sich jeder etwas anderes darunter vorstellen: Jung, blond, schön, was auch immer.
APA: Ein Gesprächspartner spricht die Verantwortung von Ihnen als Regisseurin an, mit der Offenheit der Männer nicht "missbräuchlich" umzugehen. Hat Sie diese Frage bewegt?
Beckermann: Es ist für mich immer klar, dass ich Menschen nicht ausstelle. Ich will sie nicht ausstellen, sondern vorstellen. In ihrer Sprache, in ihrer Gestik. Das Wichtigste und Interessanteste war für mich das spontane Lesen der Männer. Da haben sie wunderbar agiert. Schauspieler hätten das sicher schlechter gemacht. Gerade bei der "Mutzenbacher", diesem Juwel der Wiener Sprache mit ihren Ausdrücken, die man heute zum Teil nicht mehr kennt.
APA: Wäre für Sie eine Fortsetzung von "MUTZENBACHER" mit Frauen als Gesprächspartnerinnen denkbar?
Beckermann: Im Spaß haben wir das oft gesagt. Aber ich weiß nicht, ob das so interessant wäre. Ich weiß ja viel mehr, was Frauen denken. Aber schauen wir mal - man soll nie nie sagen.
(Das Gespräch führte Martin Fichter-Wöß/APA)
Zusammenfassung
- Ruth Beckermann triumphierte bei der Berlinale mit ihrem Film "MUTZENBACHER" in der Sektion Encounters.
- In Berlin sprach Beckermann damals mit der APA über das Ausstellen von Menschen, Sexualität als Basis der Gesellschaft und die Frage, ob es interessant wäre, auch mit Frauen zu reden.