APA/APA/Wiener Festwochen/Simon Gosselin

Noblesse und Nihilismus: "Extinction" bei den Festwochen

Clubbesuch, Kinoabend, nacktes Theater: Mit dem fünfstündigen Mammutwerk "Extinction" untersucht der französische Regisseur Julien Gosselin bei den Wiener Festwochen den Untergang der (Wiener) Moderne anhand einer radikalen Verschränkung von Arthur Schnitzler und Thomas Bernhard. Der wilde Ritt zwischen Noblesse und Nihilismus, Trieb und Tod feierte am Montagabend Premiere in der Halle E im Museumsquartier.

Verschränkt hat der 36-jährige Regisseur, der vor allem für seine Dramatisierung von Michel Houellebecqs "Elementarteilchen" bekannt ist, dabei nicht nur Zeit und Raum, sondern auch sein Ensemble "Si vous pouviez lécher mon cœur" mit Akteurinnen und Akteuren der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Das führt zu einem zwischen Deutsch und Französisch oszillierenden Sprachrausch, der dem Publikum ein hohes Maß an Konzentration abverlangt. Lässt man sich auf diesen bild- und sprachgewaltigen Abend ein, kann man eines der Highlights dieser letzten Festwochen von Intendant Christophe Slagmuylder erleben - sofern man bis zum Ende durchhält.

Den Anfang macht ein Clubabend: Während es auf der Bühne gratis Getränke gibt, sorgt ein DJ-Trio auf einem zentral platzierten Podest für dunkle Beats. Man tanzt im Theaternebel - oder auch nicht. Nach einer halben Stunde schälen sich schließlich zwei Frauen aus der Menge, deren Treiben seit geraumer Zeit von Live-Kameras auf die beiden Leinwände projiziert wird. Rosa erhält die Information, dass sie dringend zu Hause in Wolfsegg anrufen soll - jenem Ort, aus dem der Ich-Erzähler in Thomas Bernhards letztem Roman "Auslöschung" stammt. Die beiden Frauen diskutieren noch, ob sie gehen oder doch noch auf der Party bleiben sollen, dann läutet ein radikaler Schnitt die erste Pause ein.

Im zweiten, zweieinhalbstündigen Teil dieses theatralen Triptychons ist das DJ-Pult verschwunden, stattdessen blickt man (nunmehr von der Tribüne aus) auf die Fassade einer Jugendstilvilla, hinter der die feine Gesellschaft ein Festmahl gibt. Am linken Bühnenrand erhascht man Einblick ins Schlafzimmer, auf der gegenüberliegenden Seite liegt das Badezimmer. Schnell wird klar: Hier hat Gosselin die Figuren aus Schnitzlers "Fräulein Else", "Komödie der Verführung" und schließlich der "Traumnovelle" versammelt, um ganz nach Hermann Broch der "fröhlichen Apokalypse" zu frönen. Die Protagonistinnen und Protagonisten diskutieren - meisterhaft im schwarz-weißen Live-Video auf die Leinwand projiziert - über Kunst und Krieg, Liebe und Betrug, Wahrhaftigkeit und Wahnsinn. Eingeflochten hat Gosselin auch gleich Hugo von Hofmannsthals Künstlerbrief. Hier passt einfach alles: von der detailreichen Fin-de-Siècle-Ausstattung von Lisetta Buccellato (Bühne) und Caroline Tavernie (Kostüme) über das mondäne bis hysterische Spiel des Ensembles bis hin zur Ästhetik der Kameraführung und dem virtuosen Live-Schnitt. Am Ende - nun in Farbe - steht die Katastrophe.

Zwei Weltkriege später haben wir es im dritten Teil, in dem Rosa Lembeck umringt von 50 Zuschauern allein auf einem Stuhl auf der leeren Bühne sitzt, schließlich mit der titelgebenden "Auslöschung" zu tun. Fast eine Stunde lang zelebriert Lembeck den Monolog Muraus nach dem Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders, in dem er seinen Herkunftskomplex verarbeiten und seine Erinnerungen auslöschen will. Dass Gosselin den 50-jährigen Ich-Erzähler durch eine junge Frau ersetzt hat, verleiht dem Gesagten allerdings weniger Gegenwartsbezug, als hier möglicherweise intendiert war.

Nach diesem bisher wilden, lauten und vielstimmigen Abend ist dieser letzte, sehr fokussierte Teil eine erneute Herausforderung für das Publikum, das gegen Mitternacht noch einmal seine ganze Konzentration bündeln muss. Wirklich verstehen wird man diesen an Reizüberflutung reichen Abend wohl erst im Nachhall. Vielleicht muss man das aber auch nicht bis ins letzte Detail: die Untergangsstimmung in diesem Gesamtkunstwerk ist ohnehin greifbar.

(S E R V I C E - Wiener Festwochen: "Extinction (Auslöschung)" von Julien Gosselin / Si vous pouviez lécher mon cœur, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Mit Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal. Französisch und Deutsch mit deutschen und französischen Übertiteln. Weitere Termin in der Halle E heute, 13. Juni, 19 Uhr. www.festwochen.at)

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  • Der wilde Ritt zwischen Noblesse und Nihilismus, Trieb und Tod feierte am Montagabend Premiere in der Halle E im Museumsquartier.