Neuer Bayreuther "Parsifal" enttäuscht, Sänger umjubelt
Viel war vor der Premiere geschrieben worden über das Projekt. Darüber zum Beispiel, dass die Festspiel-Geschäftsführung aus Kostengründen nur 330 Brillen in die virtuelle Welt angeschafft hatte und dass Wagnerianer - allen voran der Mäzenenverein der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth - dem Herzensprojekt von Festspielchefin Katharina Wagner eher skeptisch gegenüber standen.
Entsprechend groß also die Erwartungen an das Vorhaben Scheibs, des Theaterkunst-Professors am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT), und entsprechend groß auch die Überraschung, wenn nicht gar Enttäuschung bei der Premiere. Scheib zeigt nämlich eine ausnehmend klassische und werktreue Inszenierung von Richard Wagners letzter Oper. Und das gilt auch für die vergleichsweise Wenigen, die dank von den Festspielen für rund 1.000 Dollar pro Stück angeschafften Brillen mehr sehen können als das, was physisch auf der Bühne passiert. Denn Scheib nutzt die Technik vor allem dazu, das, was gesungen wird, einigermaßen schlicht zu illustrieren.
So erschwert der Schwan, den Parsifal mit seinem Pfeil tötet, im ersten Akt minutenlang den Blick auf die Bühne - zumindest teilweise. Dass man sich im zweiten Akt auch wirklich in Klingsors Zaubergarten befindet, betonen wild wuchernde Lilien und der heilige Speer, den Klingsor gegen Parsifal feuert, rast virtuell ins Publikum.
Die Momente, in denen die Technik das Bühnengeschehen wirklich ergänzt, beispielsweise weil die Gurnemanz-Erzählung illustriert wird, der Mond so schön scheint, die Gralspräsentation mit Lichteffekten untermalt wird oder eine ganze Unterwasserwelt mit Zivilisationsschrott zu Füßen des Publikums erscheint, das angehalten ist, mit der teuren Brille nicht nur stur nach vorne zu schauen, sondern den Blick ungewohnt wandern zu lassen, sind leider zu selten in Scheibs Inszenierung.
Dafür gibt es Spielereien, die weniger für die Oper tun als sie ihr nehmen. Denn durch die hellen, virtuellen Elemente gerät das dunklere Bühnengeschehen viel zu sehr in den Hintergrund. Interaktionen der Protagonisten sind - beispielsweise weil im zweiten Akt riesige Totenköpfe den Blick auf die Bühne versperren - kaum zu erkennen, ebenso das, was auf Videoleinwänden gezeigt wird.
So setzt sich zwischendrin eine Fliege aus einem Schwarm auf die AR-Brille, so flattern Schmetterlinge durch die Luft, Bienen, Blumen, abgetrennte Gliedmaßen oder innere Organe. Als Klingsors Zaubergarten in sich zusammen fällt, tut es - natürlich rein virtuell - das Festspielhaus ihm gleich. "Wir werden die Mauern explodieren lassen, wir werden sie verschwinden lassen", hatte Regisseur Scheib vor der Premiere im Interview der Deutschen Presse-Agentur angekündigt, und irgendwie hatte man sich davon mehr versprochen.
Ob die Buhs, die nach dem Ende der Premiere - flankiert von Begeisterung - durchaus hörbar aufbranden, in erster Linie von denjenigen kommen, die all das sehen konnten oder von denen, die nur eine abgespeckte, fast konzertante Version sahen, ist nicht auszumachen. Großen Jubel gibt es aber für den musikalischen Teil - und besonders für zwei Einspringer: Andreas Schager hatte die Titelpartie erst zwei Wochen vor der Premiere von Joseph Calleja übernommen, der wegen einer hartnäckigen Infektion im Halsbereich ausfiel.
Noch mehr gefeiert als der Titelheld wird aber Opernstar Elīna Garanča bei ihrem Bayreuth-Debüt für eine glänzende Darstellung der Kundry. Auch sie hatte die Rolle sehr kurzfristig übernommen, weil die russische Sängerin Ekaterina Semenchuk ihre Teilnahme an den Festspielen "aus privaten Gründen" abgesagt hatte. Garanča bekommt für ihre abwechslungsreiche, ausdrucksstarke, kraft- und gefühlvolle Darbietung sogar noch mehr Applaus als der Bayreuther Publikumsliebling Georg Zeppenfeld als hervorragender Gurnemanz. Einige Zuschauer stehen aus Begeisterung für sie sogar auf. Auch Pablo Heras-Casado wird für sein relativ zügiges Dirigat weitgehend einhellig gefeiert - anders als das Regie-Team um Scheib.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) sagt beim Staatsempfang nach der Festspiel-Eröffnung, sie habe die AR-Brille nur am Anfang aufgehabt und dann abgenommen, weil sie ohne "mehr in die Inszenierung hineingekommen" sei. "Ich finde es gut, dass man neue Formate, neue Versuche macht", sagt sie. "Ob es immer funktioniert, ist eine andere Frage." Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) räumt ein, die Brille "kaum angehabt" zu haben. "Ich fand es ohne ehrlich gesagt besser."
Am Vormittag hatte das bayerische Kabinett beschlossen, dass der Freistaat sich künftig finanziell noch stärker bei den Festspielen engagieren will. "Wir wollen, dass Bayreuth weiter die erste Adresse für Wagner ist", begründete Söder bei seinem Staatsempfang am Abend diesen Schritt. Festspiel-Chefin Katharina Wagner sagte, diese Ankündigung mache sie sehr glücklich, "das ist ein Bekenntnis zu den Bayreuther Festspielen". Seit Gründung des Festivals vor fast 150 Jahren steht ein Familienmitglied an der Spitze. Vor Katharina Wagner leitete ihr Vater Wolfgang, Enkel Richard Wagners (1813-1883), die Festspiele.
Bisher sind Bund, Bayern und die Gesellschaft der Freunde von Bayreuth (GdF) mit je 29 Prozent der Anteile gleichberechtigte Gesellschafter und geben etwa drei Millionen Euro pro Jahr für den Festspiel-Betrieb. Die Stadt Bayreuth hält die restlichen Anteile. Der Förderverein der "Freunde" hat Ende 2022 angekündigt, künftig wegen geringerer Einnahmen weniger zahlen zu können. Nach den aktuellen Plänen der Staatsregierung soll das Land Bayern 37 Prozent der Gesellschafteranteile übernehmen, ebenso viel soll der Bund übernehmen. Für die Mäzene der "Freunde" blieben dann 13 Prozent.
Die Bayreuther Festspiele gehen heute, Mittwoch (18.00 Uhr) mit dem "Ring des Nibelungen" in der umstrittenen Inszenierung des jungen Österreichers Valentin Schwarzweiter. Auf dem Spielplan steht der erste Teil der vierteiligen Oper von Richard Wagner: "Das Rheingold".
(S E R V I C E - https://www.bayreuther-festspiele.de)
Zusammenfassung
- Bei den Bayreuther Festspielen passte das Motto perfekt zur diesjährigen Auftakt-Premiere am Dienstagabend.
- Denn der neue "Parsifal" von Regisseur Jay Scheib wagt etwas radikal Neues und erschließt als Augmented-Reality-Version des Bühnenweihfestspiels virtuelle Welten.
- "Ich finde es gut, dass man neue Formate, neue Versuche macht", sagt sie.
- Auf dem Spielplan steht der erste Teil der vierteiligen Oper von Richard Wagner: "Das Rheingold".