Menasse-Roman über Erweiterung: "Österreich geht mir zu nah"
APA: Herr Menasse, "Die Erweiterung" liest sich in vieler Hinsicht als Fortsetzung von "Die Hauptstadt". Wann war für Sie klar, dass es so etwas wie ein Follow-Up geben muss?
Robert Menasse: Als ich begonnen habe, mich mit der EU als einem literarischen Stoff zu beschäftigen, wurde mir sehr rasch klar, dass man unmöglich alles, was da herein spielt, in nur einem Roman erzählen kann. So habe ich von Anfang an eine Trilogie geplant, mit drei Schwerpunkten. Aber jeder Roman soll unabhängig von den anderen gelesen werden können, und gemeinsam sollen sie ein Panorama entfalten.
APA: Was kommt also als Abschluss - und wann?
Menasse: Wann der dritte Band kommt, ist schwer zu sagen, da werde ich zunächst noch einige Zeit in einer anderen europäischen Stadt leben. Mehr möchte ich noch gar nicht sagen, es ist doch jetzt erst der zweite Band erschienen.
APA: Brüssel als Schauplatz ist klar, aber was sprach bei der "Erweiterung" für Tirana? Wie kamen Sie dazu, von den Beitrittskandidaten der nächsten Erweiterung ausgerechnet Albanien ins Zentrum zu rücken?
Menasse: Zunächst einmal: Ich finde es wichtig und darüber hinaus hochinteressant, sich die Länder anzuschauen, die in die EU eintreten wollen. Deren Mentalitäten, Kulturen, Geschichte, das alles wird ja in absehbarer Zeit Teil von uns werden, ein weiterer Bestandteil unserer Einigkeit in Vielfalt. Auch politisch: die Probleme oder Möglichkeiten etwa des Westbalkans werden unsere Innenpolitik. Albanien zeigt ein sehr typisches Bild eines Beitrittskandidaten: die großen Hoffnungen und Erwartungen, die die Bevölkerung in einen EU-Beitritt setzt, der amtierende Ministerpräsident gewann die Wahl, weil er versprach, das Land in die EU zu führen, die großen Anstrengungen, um die Reformen durchzuführen, die von Brüssel gefordert werden, und was das mit den Menschen macht, die politischen und kulturellen Widersprüche, die Blockaden von Seiten einzelner EU-Mitgliedstaaten und so weiter.
APA: In Ihrem Roman spielt der Helm des Skanderbeg, eines albanischen Fürsten aus dem Mittelalter, eine große Rolle. Wie sind sie darauf gestoßen?
Menasse: In Albanien ist es unmöglich, nicht auf Skanderbeg zu stoßen. Er ist der größte Nationalheld, er war der Erste, der die albanischen Stämme geeint hatte, er war sozusagen der Stifter der albanischen Identität. Und er verteidigte in vielen Schlachten das christliche Abendland gegen die Osmanen. Das fand ich auch hochinteressant: dass dieser so genannte Athleta Christi der größte Nationalheld eines mehrheitlich muslimischen Landes ist. Dabei ist aber vor allem eines bedeutsam: mit der Figur des Skanderbeg hat Albanien etwas, was die EU selbst nicht hat: ein Symbol für Zusammengehörigkeit und Einigkeit. Und in diesem Sinn habe ich im Roman mit dieser Figur, beziehungsweise seinem Helm, der ein universales Logo in Albanien ist, gespielt. Der Helm befindet sich übrigens im Kunsthistorischen Museum in Wien.
APA: ... wo er gestohlen wird.
Menasse: Ja, das ging im Roman ganz leicht, so wie damals mit der Saliera. Jedenfalls geht es um das Gedankenspiel: Wer sich den Helm des Skanderbeg aufsetzt, ist symbolisch der Fürst aller Albaner - und dann? Man muss wissen, dass die Albaner die größte Ethnie auf dem Balkan und in Osteuropa sind, in Bosnien, im Kosovo, Mazedonien, in West-Griechenland, Süditalien, überall leben Hunderttausende Albaner. Und was ist, wenn sie alle, egal in welchen Staat sie leben, ihre Loyalität an den Mann binden, der im Besitz des Helms ist? Die Idee von Großalbanien macht aus dem Balkan wieder ein Pulverfass. Begonnen hat es damit, dass just als ich in Tirana war, der albanische Außenminister den Vorschlag machte, dass Albanien und der Kosovo einen gemeinsamen Präsidenten wählen sollen. Das ist realpolitisch natürlich unmöglich, aber als Idee einfach so hingeworfen ein schönes Beispiel für Symbolpolitik, einer Krankheit unserer Zeit. Man sendet Signale, die Menschen in Bewegung setzen, Gefühle evozieren, Fantasien, der Auslöser ist unwirklich, aber er hat Auswirkungen, weil viele Menschen an diese Fiktion glauben. Das hat mich beschäftigt. Setzen sie für den Helm die österreichische Neutralität ein, nur zum Beispiel.
APA: Sie beschreiben Albanien sehr anschaulich. Wie intensiv haben Sie vor Ort recherchiert? Gibt es für die einzelnen Figuren jeweils Vorbilder in der Wirklichkeit?
Menasse: Recherchieren klingt so journalistisch. Ich lebe gern und notwendigerweise auf den Schauplätzen meiner Romane. Und ich versuche, mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch zu kommen, und ich versuche sie zu verstehen, was sie beschäftigt, wie sie die Dinge sehen, was sie hoffen, was sie frustriert. Kein Einzelner ist dann ein reales Vorbild für eine Romanfigur, aber für mich bilden sich Typen heraus. Das ergibt ein Gewebe von Geschichten, die dann auch die Fantasie in Gang setzen, aber auch den Wunsch, das in eine Ordnung zu bringen, denn auch was in der Realität nicht funktioniert, muss als Roman funktionieren.
APA: Sie haben also, wie vor "Die Hauptstadt" in Brüssel, einige Monate in Tirana gelebt?
Menasse: Ja, und Albanien mit einem Dolmetscher bereist. Zu Beginn hatte ich große Hilfe von Arian Leka, einem wichtigen und kenntnisreichen albanischen Literaturprofessor und Autor, und vom Künstler Fate Velaj, der in den 80er-Jahren als Flüchtling nach Österreich kam, in Traiskirchen Deutsch gelernt hat und heute Abgeordneter im albanischen Parlament ist. Auch die österreichische Botschaft in Tirana hat mir geholfen, erste Kontakte in Tirana zu machen.
APA: Ich lese "Die Erweiterung" als großen Zeitroman, der anhand einzelner Figuren politische Zusammenhänge tatsächlich plastisch und transparent macht. Wie groß war Ihr volksbildnerischer bzw. aufklärerischer Anspruch beim Schreiben?
Menasse: Das war und ist nicht mein Anspruch. Ich will niemanden bilden oder belehren. Ich will einfach nur erzählen können, was in meiner Lebenszeit vorgeht, vor allem, was die Umstände unseres Lebens betrifft, die Bedingungen, die wir nicht selbst geschaffen oder gewählt haben, an denen wir aber doch beteiligt sind, und die in unser Leben hineinwirken, ob wir das wollen oder nicht. Ich glaube fest daran, dass das die Aufgabe des Romans ist: seine Zeitgenossenschaft in Erzählung zu fassen. Ich schreibe heute, wie es damals war, wobei damals noch jetzt ist.
APA: In "Die Erweiterung" bekommen die Geschehnisse nicht zuletzt durch ost- und südosteuropäische Akteure Farbe. Hier hat der Roman Aspekte der Farce, des Märchens, der Fabel, aber auch des Krimis. Das Aufeinanderprallen mit einer kühlen, entemotionalisierten Politik des Westens bringt Spannung, aber auch Unterhaltung in die Handlung. Literarischer Kniff oder Teil Ihrer Wahrnehmung der EU-politischen Vorgänge?
Menasse: Diese Facetten entstehen einfach, wenn man erzählt, weil das Leben eben diese Facetten hat. Ich habe noch nie den Gedanken gehabt, dass an dieser oder jener Stelle jetzt ein Kniff nötig wäre, aber ich denke viel darüber nach, wie ich was angemessen erzähle. Das gelingt mir dann schlüssig, finde ich, wenn ich selbst der sein kann, von dem ich erzähle. Ich mache beim Schreiben zum Teil das, was man beim Filmschauspiel method acting nennt. Und so bin ich manchmal lächerlich, manchmal tragisch, dann wieder komisch, je nachdem, welche Figur ich beim Schreiben gerade bin und in welcher Situation sich diese Figur befindet. Dazu muss ich natürlich die Biografien der Figuren kennen, ich muss von den Figuren mehr wissen, als ich dann erzähle. Ich erzähle ja auch in Wirklichkeit nicht jedem mein ganzes Leben. Aber es von den Figuren zu wissen, ist notwendig, damit sie sich glaubhaft durch den Roman bewegen. Ist das vielleicht doch ein literarischer Kniff?
APA: In den vergangenen Jahren hat die EU ungeheure Probleme zu meistern gehabt. Wie hat sie das grosso modo geschafft? Und wie beurteilen Sie, wie das große Friedensprojekt EU mit der Herausforderung Ukrainekrieg umgeht?
Menasse: Wie die EU es grosso modo geschafft hat? Sie hat es noch nicht geschafft. Oder gibt es bereits eine gemeinsame europäische Energiepolitik? Eine europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Europa hat eine gemeinsame Währung, aber gibt es eine gemeinsame Finanzpolitik? Gibt es die Anstrengung einer gemeinsamen Sozialpolitik, die ausgleicht, was die europäische Wirtschaftspolitik an sozialem Gefälle und an Verwerfungen produziert? All das wäre notwendig, um die Probleme zu meistern, mit denen wir konfrontiert sind. Aber vielleicht kommt das alles noch?
Die grundsätzliche Solidarität mit der Ukraine und ihre Unterstützung finde ich allerdings gut und wichtig. Wir in Österreich sind ja zum überwältigenden Teil die Enkel und Urenkel derer, die sich nicht gewehrt haben, als ein Aggressor einmarschierte. Der letzte Bundeskanzler, alles andere als ein Selenskyj, sagte in seiner Rundfunkrede, mit der er sich ergab und das Land preisgab, dass er nicht wolle, dass Blut vergossen werde. Danach mussten die Österreicher die Erfahrung machen, dass ihre sogar fröhliche Unterwerfung keineswegs Blutvergießen, Mord, Raub, Terror und schließlich Krieg verhindert hat, im Gegenteil. Darum ist es ungeheuerlich, dass in Österreich von vielen Menschen bis hin zu Wirtschaftsvertretern die Solidarität mit der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland in Frage gestellt werden. Und dass bereits wieder Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht wird. Und da sind wir auch wieder bei Europa: haben wir eine gemeinsame europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik? Nein. Der Nationalist braucht diesen Zustand als nationales Problem.
APA: Wie sehen Sie den realen EU-Erweiterungsprozess in den kommenden Jahren? Ist er tot? Oder weiterhin ein notwendiger Motor?
Menasse: Die EU wird entweder an ihren inneren Widersprüchen und ihrem systemischen Ungenügen zerbrechen, oder sie wird bei Gefahr des sonstigen Untergangs gezwungen sein, sich doch weiter zu entwickeln und wirklich zusammenzuwachsen. Ich bin sehr für den Erweiterungsprozess, vor allem für den Beitritt der Balkanstaaten, da könnte das Friedensprojekt seinem Namen und seiner Idee wieder gerecht werden. Aber ohne Weiterentwicklung bitte keine Erweiterung. Sonst hat die EU bloß ein paar Kommissare mehr, für die Ressorts erfunden werden müssen, und noch ein paar Länder, die Brüssel als Bankomat sehen, wo man Geld abhebt, und ein paar Regierungschefs mehr im Rat, die die Möglichkeit haben, mit Vetos alles zu blockieren.
APA: Österreich ist nur ganz am Rande Schauplatz von "Die Erweiterung". Gibt es etwas, was Sie an der heimischen Innenpolitik als Ausgangspunkt für einen Roman reizen könnte - oder hat sich diese in den vergangenen Jahren endgültig ad absurdum geführt?
Menasse: Österreich, genauer gesagt Wien und Niederösterreich, das ist meine Heimat. Und das ist gut so und schön. Aber ich schreibe keinen Heimatroman. Schon gar nicht mit unserem Politpersonal als Figuren. Oder würden Sie sagen, es sind doch Figuren?
APA: Natürlich: Randfiguren, die sich als Hauptfiguren gebärden. Sie als Autor müssten sich nur dafür entscheiden: Ist es eine Komödie oder ist es eine Tragödie?
Menasse: So einfach ist das nicht. Ein Roman erzählt von beidem, Tragödien und Komödien. Es kann sogar ein und dasselbe sein, was manche als Komödie, andere als Tragödie erleben. Österreich geht mir zu nah. Eine Tragödie - sie ist zum Lachen. Oder umgekehrt.
(Die Fragen stellte Wolfgang Huber-Lang/APA per Mail)
(S E R V I C E - Robert Menasse: "Die Erweiterung", Suhrkamp Verlag, 654 Seiten, 29,50 Euro, Erscheinungstermin: 10.10.,ISBN 978-3-518-43080-4; Lesung und Gespräch mit Klaus Zeyringer: Sonntag, 9.10., 15 Uhr, Im Rahmen der Veranstaltung "Europa erzählen. Europa verändern." in Hartberg, "Haus lebt", Michaeligasse 10. www.hauslebt.at)
Zusammenfassung
- Sein tief in Brüsseler EU-Institutionen eintauchender Roman "Die Hauptstadt" bescherte Robert Menasse 2017 tolle Kritiken und den Deutschen Buchpreis.
- "Die Erweiterung" spielt zu großen Teilen in Albanien - und ist der Mittelteil einer Trilogie, wie der Autor im APA-Interview verrät.
- So sehr er sich in seine Figuren hineinbegebe, so wenig verfolge er beim Schreiben bestimmte Ziele: "Ich will niemanden bilden oder belehren."