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Maja Lunde bringt die Zeit zum Stillstand: "Für immer"

Mit ihrer "Geschichte der Bienen" landete die Norwegerin Maja Lunde 2015 einen in 40 Ländern publizierten Welterfolg. Auch in ihren nächsten Romanen machte sie anhand persönlicher Schicksale auf Umweltthemen und Klimawandel aufmerksam. Nach ihrem "Klimaquartett", das sie 2023 mit "Der Traum von einem Baum" abgeschlossen hat, erscheint nun ein Roman, in dem die 49-Jährige die Natur quasi zurückschlagen lässt. In "Für immer" kommt die Zeit zum Stillstand.

"Die Erde sei ein großer Organismus und dieser Organismus kämpfe gerade darum, das Leben auf unserem Planeten zu erhalten", mutmaßen manche, als eines schönen Sommertages offenbar weltweit die menschliche Entwicklung zum Stillstand kommt. "Der Mensch benahm sich wie ein Virus, (...) und jetzt habe die Immunabwehr der Erde eingesetzt. Der Stillstand sei der Versuch der Erde, den parasitären Menschen loszuwerden."

Das ist ein interessantes Gedankenexperiment, nicht mehr. Die Umsetzung in einen halbwegs plausiblen Plot ist ein recht halsbrecherisches Unterfangen, denn da geht es etwa auch darum, Gründe dafür zu finden, warum selbst Menschen, bei deren Base-Jump aus mehreren hundert Metern Höhe der Fallschirm versagt, sich zwar ihren Hals brechen, aber dennoch überleben. Im Bereich der naturwissenschaftlichen Fakten bewegt sich "Für immer" häufig am Rande der unfreiwilligen Komik, doch es geht Maja Lunde ohnehin mehr um die Psychologie des Menschen. Wie reagieren diese, wenn Endlichkeit und Tod abgeschafft scheinen?

Sehr unterschiedlich nämlich, und die Norwegerin hat sich ein paar gute Beispiele für Fallstudien ausgedacht. Die Mutter von zwei Buben, der Krebs im Endstadium diagnostiziert wurde, hat plötzlich wieder Perspektiven, mit denen sie nicht rechnen konnte - einschließlich der schockierenden Erkenntnis, dass auch ihre Sprösslinge womöglich ewig so bleiben werden, wie sie sind - nörgelnde, zerstrittene, uninteressierte Teenager. Ein junges Paar muss hingegen erfahren, dass das im Bauch seiner Mutter heranwachsende Kind seit der 26. Schwangerschaftswoche zwar unverändert gesund ist, aber keinerlei weiteres Wachstum mehr zeigt.

Während sich die Krankenhäuser mit Patienten füllen, die sonst niemals Überlebenschancen hätten, stehen die Bestattungsunternehmen mit einem Schlag ohne Aufträge da. Der Tod verliert seinen Schrecken, und menschliche Zeitfenster öffnen sich in ungeahnte Dimensionen. Eine Pensionistin erklärt ihrem überraschten Mann, mit dem sie eben erst in die Seniorenresidenz übersiedelt ist, die Dinge hätten sich geändert: "Wenn ich alle Zeit der Welt habe, kann ich sie nicht für dich verwenden."

Die Reaktion von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft zeichnet Maja Lunde in Anlehnung an die Corona-Pandemie: Weltweit forschen die unterschiedlichsten Forscherinnen und Forscher an möglichen Ursachen und Lösungen, die Regierungen üben sich in Durchhalteparolen und Beschwichtigungsrhetorik, während die Verschwörungstheoretiker starken Zulauf haben. Geben uralte Schriftplatten Hinweise, wie der weltweite Stillstand überwunden werden kann? Genügt es, einen perfekten Moment des friedlichen Zusammenlebens der Menschheit zustandezubringen, um den Lauf der menschlichen Entwicklung wieder in Gang zu bringen? Kann die Reset-Taste gedrückt werden, wenn alles wieder wird, wie es im Moment vor dem großen Stopp war?

Anders als viele Kolleginnen und Kollegen, die sich an Menschheitsdystopien angesichts der Klimakatastrophe abarbeiten, verweigert Lunde den Schwenk Richtung Thriller - und bringt "Für immer" erstaunlich unspektakulär und wenig überzeugend zu einem paradoxen Ende. Denn schlussendlich ist man dann doch erleichtert, dass man dieses Buch nicht "für immer" weiterlesen muss.

(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - Maja Lunde: "Für immer". Übersetzt von Ursel Allenstein, btb Verlag, 320 Seiten, 24,70 Euro)

ribbon Zusammenfassung
  • Maja Lunde erforscht in ihrem neuen Roman 'Für immer' die psychologischen Auswirkungen eines weltweiten Stillstands der menschlichen Entwicklung.
  • Menschen reagieren unterschiedlich auf den Stillstand, von Hoffnung bis Verzweiflung, während die Gesellschaft nach Lösungen sucht.
  • Der Roman endet unspektakulär und wird für seine halsbrecherische und amüsante Plotumsetzung kritisiert.