Lisa Wentz' "Azur" verhandelt das Trauma nach dem Missbrauch
Das Déjà-vu ist nicht zuletzt dem Bühnenbildner Patrick Bannwart zu verdanken, der im Haus von "Adern" nun eine Zwischendecke eingezogen und somit eine zweite Wohnebene geschaffen hat. Bewohnt wird das Haus von drei Generationen der Familie Maringer, die Haupthandlung wird auf zwei Zeitebenen - 1988 und 2011 - erzählt. Hier kommt Moana Stemberger ins Spiel, die mit ihren schlichten, aber für die jeweilige Zeit prototypischen Kostümen dafür sorgt, dass man auch jenseits der Einblendung der Jahreszahlen als Zuschauer stets weiß, in welcher Zeit man sich gerade befindet. Lediglich die inkonsequente Ausführung der dialektal gefärbten Sprache der 1995 geborenen Autorin sorgt bisweilen für Irritationen.
Im Zentrum steht Johannes, der 1988 kurz vor der Matura steht und lieber im Heuschober seine blauen Bilder malt, als mit seiner Schwester Martha, deren Freundin Karla und seinem Schulfreund Geri in der Dorfdisco abzuhängen. Alexander Absenger - mit blondem Vokuhila kaum zu erkennen - ist ein fahriger junger Mann, dem nicht nur seine unterdrückte Liebe zu Geri (Oliver Rosskopf) zu schaffen macht. Sein Geheimnis wird 13 Jahre später der Grund sein, spurlos zu verschwinden und seine Ehefrau, seine Tochter, seine Schwester, seine Mutter und den alten Großvater mit vielen Fragen zurück zu lassen.
Im Jahr 2011 kommt die Familie wieder zusammen, um eine leere Urne zu Grabe zu tragen, um endlich mit dem Verlust abzuschließen. Martina Ebm, die Johannes als junges, wildes Mädchen Karla über seinen Liebeskummer mit Geri hinweggeholfen hat, verzweifelt als alleinerziehende Mutter der pubertierenden Tochter Anna (herrlich aufmüpfig: Juliette Larat). Ulli Maier gibt ihre grantige Schwiegermutter, der die Demenz des Opas (grandios alternd: Michael König) gehörig auf die Nerven geht. Auch ihre Tochter Martha ist aus der großen Stadt gekommen, um der Verabschiedung beizuwohnen. Katharina Klar hat sich da vom schrillen Madonna-Abklatsch der 80er Jahre in eine intellektuelle Fotografin mit Hornbrille verwandelt, die auch gleich Geri eingeladen hat, der mittlerweile als angesehener Journalist von sich reden macht.
Wahrheiten zwischen Streit und Schweigen
Wenn sie alle nicht gerade streiten - von der Spinatlasagne bis zum Umgang mit der Teenagerin birgt alles Konfliktpotenzial -, schweigen sie sich an. Warum Johannes vor zehn Jahren verschwunden ist, bleibt ein Rätsel. In zahlreichen Rückblenden ins Jahr 1988, die dank der Drehbühne, rasanter Kostümwechsel und des Einsatzes zahlreicher Songs vom Band nahezu nahtlos vonstatten gehen, beginnt man zu ahnen, was los war. Es ist nicht nur die von der Mutter brüsk verurteilte homosexuelle Liebe zwischen Johannes und Geri, sondern auch die Zeit im katholischen Internat, über der ein dunkler Schatten hängt.
Wie behutsam Wentz, die sich im Programmheft beim realen Johannes für das Erzählen seiner Geschichte bedankt, das Thema Missbrauch in der Kirche hier verhandelt, ist der starke Kern dieses Abends. Oft sind es weniger die Andeutungen als die Pausen, die das Unsagbare greifbar machen. Schatten von Kindern mit hängenden Köpfen huschen als Projektion über die Hausfassade, eine Toncollage aus Gebeten lässt einem den Schauer über den Rücken laufen. Am Ende bricht Geri sein Schweigen, wenn auch schweigend, indem er der jungen Anna ein Konvolut an Zetteln überreicht, auf denen er die Geschichte niedergeschrieben hat.
Wer hat davon gewusst?
Die schmerzhafteste Szene zeigt schließlich Geri und seinen Vater (Günter Franzmeier), der im Dorf ein hohes Amt inne hat. Während im Jahr 2001 alle auf den Beinen sind, um den soeben verschwundenen Johannes zu suchen, will Geri von seinem Vater wissen, was dieser über das katholische Internat wusste. Seit wann er es wusste und warum er seinen Sohn trotzdem hingeschickt hat. "Ich bin wer in der Stadt. Du bist mein Sohn. Niemand hätt' sich traut, dich angreifen." Das darauffolgende Schweigen des Sohnes sagt alles. Lang anhaltender Jubel für das gesamte Ensemble, das Regieteam und vor allem die Autorin beendeten einen starken Abend rund um Trauer und Trauma.
(Von Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - "Azur oder die Farbe von Wasser" von Lisa Wentz, Uraufführung am Theater in der Josefstadt. Regie: David Bösch, Bühne: Patrick Bannwart, Kostüme: Moana Stemberger. Mit Juliette Larat, Alexander Absenger, Oliver Rosskopf, Katharina Klar, Martina Ebm, Ulli Maier, Michael König und Günter Franzmeier. Weitere Termine am 31. Jänner, am 10. und 14. Februar, am 5., 6., 22. und 23. März sowie im April und Mai. www.josefstadt.org)
Zusammenfassung
- Lisa Wentz' Stück 'Azur oder die Farbe von Wasser' wurde im Theater in der Josefstadt uraufgeführt und spielt auf zwei Zeitebenen, 1988 und 2011.
- Im Zentrum der Handlung steht Johannes, dessen geheime Liebe zu Geri und seine Erlebnisse im katholischen Internat das Thema Missbrauch in der Kirche behandeln.
- Die Familie Maringer versucht 2011, mit Johannes' Verschwinden abzuschließen, indem sie eine leere Urne zu Grabe trägt.
- Das Bühnenbild von Patrick Bannwart und die Kostüme von Moana Stemberger unterstützen die zeitliche Einordnung der Handlung.
- Lang anhaltender Jubel belohnte das Ensemble und die Autorin für die eindrucksvolle Inszenierung eines schwierigen Themas.