Hamburger Senator sieht Kulturpolitik immens herausgefordert
APA: Herr Brosda, werden Kunst und Kultur nach Corona genauso aussehen wie vor Corona?
Carsten Brosda: Ich hoffe nicht, weil ich es wirklich merkwürdig fände, wenn wir als Gesellschaft - und der Kunst- und Kulturbetrieb ist ja Teil davon - einen solchen existenziellen Schock durchmachten und nachher einfach zum Business as usual zurückkehrten. Ich glaube, es werden Veränderungen spürbar sein und Dinge nachhallen, die uns über Jahre hinaus beschäftigen werden. Ich sehe das nicht nur als eine Bedrohung - vorausgesetzt wir bekommen es hin, die kulturellen Infrastrukturen zu erhalten. Es ist auch eine Chance, sich die eine oder andere Routine oder Positionierung anzusehen und zu fragen, ob es nicht ohnedies an der Zeit wäre, sie zu verändern. Wenn es Anfang 2022 genauso aussähe wie Anfang 2020, müssten wir uns fragen: Haben wir denn gar nichts gelernt?
APA: Können sich etwa durch den Digitalisierungsschub der Kultur, aber auch durch die Notwendigkeit, statt auf den Kulturtourismus verstärkt auf die lokale Bevölkerung zu setzen, positive Dinge entwickeln?
Brosda: Die Diagnose ist da älter als die Pandemie. Wir haben schon vorher etwa mit Audience Development im Museumsbereich oder Diskussionen im Theaterbereich rund um die Strukturen von Stadttheater und Freier Szene wichtige Themen bewegt. Die klassischen Milieus, auf die viele Kultureinrichtungen gegründet waren, tragen alleine nicht mehr. Aber nicht nur deshalb ist es wichtig, die diverse Stadtgesellschaft in ihrer Vielfalt in die Einrichtungen zu holen. Wir wollen dahin kommen, dass die Kulturangebote für die Breite der Gesellschaft relevant sind. Daran arbeiten wir ja schon länger. Die Erfahrung dieses Jahres könnte auf zwei Ebenen als Katalysator wirken: Wenn man nicht mehr so lange vorausplanen kann, dann entwickeln sich auch schnellere Formen des reaktiven Produzierens. Das könnte uns helfen, Kulturangebote näher an die Stadtbevölkerung und ihre aktuellen Themen heranzubringen. Dazu kommt die Erfahrung, dass es einem Teil der Politik bei den Corona-Beschlüssen offensichtlich leicht gefallen ist, Kultureinrichtungen zu schließen, und danach kein gesellschaftlicher Aufschrei kam. Auch die eine oder andere Äußerung Ihrer Bundesregierung fand ich da bemerkenswert. Wir müssen uns also die Frage stellen, was wir tun müssen, damit eine Gesellschaft in all ihrer Breite und Vielfalt sagt: So kann man mit Kultur nicht umgehen!
APA: Wird aber nicht gerade bei jenen Gruppen, denen Zugang zu Kunst und Kultur verstärkt ermöglicht werden soll, in kommenden wirtschaftlichen Krisen die kulturelle Teilhabe noch weniger im Vordergrund stehen?
Brosda: Auch im Warenkorb der einkommensschwächeren Haushalte nehmen Produkte der Kulturindustrie ja bisweilen einen erheblichen Anteil ein. Die Frage ist eher: Warum kommt dort seltener jemand auf die Idee, dass auch das, was von den geförderten Kulturinstitutionen angeboten wird, eine Bereicherung des eigenen Lebens sein kann? Das ist nicht nur eine ökonomische, sondern häufig auch eine soziale und habituelle Hürde, über die wir reden müssen. Da könnte das Wegfallen der räumlichen Hürde der Institutionen durch zusätzliche digitale Angebote eine Chance sein. Gelingt es uns, die Kulturtempel vom Sockel zu holen? Indem die Leute nicht nur hineingehen, sondern auch draufklicken können, entdecken sie vielleicht, dass auch sie mit den Angeboten gemeint sind und etwas davon haben.
APA: Deutschland war beim Kultur-Lockdown wesentlich radikaler als Österreich und spricht jetzt beim Wiederaufsperr-Plan von Inzidenz-Zahlen, die bei uns in manchen Teilen des Landes wohl noch auf längere Zeit nicht erreichbar sind. Wir erklären Sie sich die unterschiedlichen Zugänge der beiden Länder?
Brosda: Wir haben versucht, ein Auf-Zu-Auf-Zu-Modell zu vermeiden, wie es anderswo der Fall war. Und wir haben in Deutschland manchmal schlicht länger gebraucht, etwa beim Einsatz von Schnelltests. Bei uns hat sich die Aufregung bei den Akteurinnen und Akteuren aus der Kultur vor allem daran entzündet, dass im Herbst entschieden wurde, als erstes müssten alle Kultureinrichtungen schließen, weil sie der Kategorie "Freizeitangebote" zugeordnet wurden und verzichtbar erschienen. Unabhängig davon hat sich die Politik früh zum Ziel gesetzt, die Inzidenzzahlen deutlich zu senken. De facto haben wir jetzt eine Öffnungsstrategie im Korridor einer 7-Tages-Inzidenz zwischen 50 und 100, - inklusive einer eingebauten Notbremse von einer Inzidenz über 100 -, und vor diesem Hintergrund öffnen diese Woche in Hamburg die Museen.
APA: In Österreich, wo dieses Auf-Zu-Auf-Zu-Modell gegenwärtig in 14-Tages-Schritten evaluiert wird, wurde von Theaterleitungen immer wieder auf Deutschland verwiesen, nach dem Motto: Sperrt uns lieber länger zu und gebt uns dafür mehr Planungssicherheit!
Brosda: Beim Ruf nach Planungssicherheit werde ich immer etwas kribbelig. Länger zuzusperren geht in Deutschland seit der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes gar nicht mehr: Beschränkungen von Grundrechten von dieser Tragweite können jetzt nur noch für maximal vier Wochen ausgesprochen werden. Sowohl als Kultursenator wie als Bühnenvereinspräsident ist es mir aber auch unabhängig davon lieber, immer wieder neu zu planen und wieder zu verwerfen, als im Dienste erhöhter Planungssicherheit auf die Möglichkeit zu verzichten, so früh wie irgend möglich das Publikum in die Häuser zu holen. Wer Planungssicherheit ruft, bekommt derzeit vom Staat nichts anderes als ein sehr weit in der Zukunft liegendes Datum. Die meisten Künstlerinnen und Künstler sagen ja: Lasst uns spielen, sobald es möglich ist! Da hat sich eine große Kreativität aufgestaut, die raus will. Viele Ausstellungen wurden fertig entwickelt, zahlreiche Stücke sind zur Generalprobe gebracht worden, manchmal auch bis zu einer Digital-Premiere. Das hat oft auch damit zu tun, dass man Honorare erst nach einer Premiere auszahlen kann. In Deutschland ist es an den Bühnen fast überall gelungen, dass der Probenbetrieb nicht eingestellt werden musste. Deswegen wird auch überall weitergearbeitet.
APA: Viele sagen aber: Das wahre Theater findet nur live und im Saal statt.
Brosda: Ich kenne tatsächlich keinen Theater-Stream, der mich vollständig befriedigt und kulturell gesättigt zurückgelassen hätte. In der Regel stellt sich irgendwann die Verlusterfahrung ein, dass es eben nur ein Surrogat für das Ganzkörpererlebnis im Saal ist. Aber wenn das nicht möglich ist, ist der Stream eben die nächstbeste Lösung. Und unter Umständen ist ja gerade diese Verlusterfahrung pädagogisch wertvoll, weil wir das Live-Erlebnis einmal mehr zu schätzen wissen. Die nächste Frage ist, ob wir Digitalität wirklich nur als einen weiteren Verbreitungskanal begreifen oder nicht endlich auch als einen weiteren künstlerischen Raum, der eigene Strategien braucht. Da sind in der Pandemie spannende Angebote entstanden und es wird in der Zukunft noch viel mehr entstehen.
APA: Befürchten Sie nach der Pandemie einen Kahlschlag der einzigartig dichten deutschen Staats- und Stadttheaterlandschaft?
Brosda: Wir müssen zumindest verstärkt aufpassen. Finanzdiskussionen gibt es bereits in mehreren Kommunen und Ländern. Es besteht die Gefahr, dass nach der Pandemie, wenn die Kredite zur Pandemiebekämpfung zurückgezahlt werden müssen, und in den Kommunen für die sogenannten "freiwilligen Leistungen", zu denen auch die Kultur zählt, am Ende kein Geld mehr bleibt. Ein Problem wäre, wenn es dann eine schleichende Umverteilung von Mitteln Richtung Bund gäbe, der aber eigentlich kulturpolitisch nicht zuständig ist. Das hielte ich für keine gute Entwicklung. Wer den regionalen Reichtum will, der muss auch für eine regionale Verfügbarkeit der Mittel sorgen.
APA: Die wahren Tragödien werden sich aber wohl in der Freien Szene und unter den freischaffenden Künstlern abspielen.
Brosda: Das ist das Problem, ja. Was wir momentan schon an kultureller Substanz verlieren, wissen wir ja noch gar nicht. Wir werden erst beim Wiederöffnen feststellen, wer dann nicht mehr da ist. Diese Erfahrung steht uns noch bevor. In Berlin gab es neulich eine Umfrage, der zufolge sich dort mittlerweile schon jeder dritte Musiker anders orientiert hat. Die kulturpolitische Herausforderung ist immens. Wir müssen uns viel stärker um die Resilienz der freien Strukturen kümmern. Das gehört zu den Punkten, bei denen ich mir wünsche, dass es nach der Pandemie anders aussieht als vor der Pandemie - weil wir etwas gelernt haben.
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
ZUR PERSON: Carsten Brosda wurde 1974 in Gelsenkirchen geboren und studierte Journalistik und Politikwissenschaft an der Universität Dortmund. Seit 2017 ist der SPD-Politiker Senator für Kultur und Medien der Hansestadt Hamburg, seit November 2020 auch Präsident des Deutschen Bühnenvereins.
Zusammenfassung
- Der Sozialdemokrat Carsten Brosda ist einer der wichtigsten Kulturpolitiker Deutschlands.
- Er sitzt als Hamburger Kultursenator und als Präsident des Deutschen Bühnenvereins gleich an zwei wichtigen Schaltstellen.
- Im Interview mit der APA plädiert er für frühestmögliche Kultur-Öffnungen und hält die Pandemie auch für eine Chance auf Veränderung.