Grausam, melancholisch, aber bunt: "Toto" im Burgtheater
Im Zentrum des dreistündigen Abends steht Maria Happel als intersexuelles Kind, das in der DDR von einer trunksüchtigen Mutter auf die Welt gebracht wird und nach deren Tod in einem von Sabine Haupt streng geführten Kinderheim landet, wo sich die durch die Mutter erfahrene Ablehnung nicht nur fortsetzt, sondern durch rohe Gewalt verstärkt wird. Das Kind, dessen Geschlecht bei der Geburt nicht eindeutig zugeordnet werden konnte und nun als Bub leben soll, bleibt stumm und verschlossen und meint, im zweiten Outsider einen Freund gefunden zu haben: Bruno Cathomas ist als Kasimir nicht nur vermeintlicher Freund und späterer Gegenspieler, sondern immer wieder auch Erzähler, der die vergehende Zeit rafft und analysiert.
In seinem opulenten Bühnenbild schafft Mondtag eine düstere Landschaft, in der eine in die Jahre gekommene zweistöckige Villa mit großen Flügelfenstern sowohl zur Geburtsklinik als auch zum Kinderheim, Landhaus und schließlich zur Hamburger Bar wird. Bevölkert wird die sich immer wieder drehende Szenerie von in bunten, übergroßen Kleidungsstücken steckenden Menschen (Kostüme: Teresa Vergho), die in dieser Welt selbst wie Fremdkörper wirken und nur einen scheinbaren Kontrast zu Happel bilden, die in einem fleischfarbenen, kurzen Neoprenanzug und Glatze das ewige Baby bleibt. Im Gesang findet Toto schließlich das einzig mögliche Ausdrucksmittel, Happel verleiht Toto mit ihrer charakteristischen Stimme eine noch tiefergreifende Andersartigkeit. Insgesamt sind es 21 Lieder, die im Laufe des Abends erklingen werden, neben Happels Soloeinlagen finden sich auch zahlreiche, von Tabea Martin choreografierte Chorpassagen, die leider oft an Textverständlichkeit missen lassen.
Und so wandelt der liebenswürdige Toto, der von seiner Hilfsbereitschaft angetrieben auf Anerkennung hofft, mit gekrümmtem Rücken durch sein Leben, macht Station bei lieblosen, gewalttätigen Pflegeeltern (White Trash par excellence: Daniel Jesch und Alexandra Henkel), trifft auf eine Gruppe von Maoisten, die ihn nach Hamburg schleust und erlebt dort in einer Bar namens "Kink" (eine gelungene Transformation der Leuchtbuchstaben, die zuvor "Klinik" gebildet hatten und nun doppeldeutig zwischen Knoten und Fetisch blinken) ein Leben als Underdog im Turbokapitalismus der frühen 1990er Jahre. Ein Umfeld, in dem Toto sich zur Frau wandelt und ernsthafte Versuche unternehmen kann, als Sängerin durchzustarten. Eine Wandlung, die Mondtag lediglich durch den Kostümwechsel zu einem langen, schlichten Kleid vollzieht. Eine innerliche Transformation bleibt dabei auf der Strecke - genauso wie Totos Traum von einem besseren Leben. Am Ende steht schließlich die schicksalhafte Begegnung mit ihrer Jugendliebe Kasimir, die schließlich ins Verderben führt.
Sibylle Berg, die auch für die Bühnenfassung verantwortlich zeichnet, hat mit Toto eine bitterböse wie trostlose Gesellschaftsanalyse gezeichnet, die weder am Realsozialismus noch am Kapitalismus ein gutes Haar lässt und einmal mehr vor Augen führt, wie Andersartigkeit über die Zeit hinweg stets Makel bleibt. Das neunköpfige Ensemble, in dem u.a. Gunther Eckes, Daniel Jesch oder Dietmar König in zahlreiche Rollen (und Kostüme) schlüpfen, bringt mit einem stetigen Wechsel aus Rasanz intensiven Momenten den nötigen Schwung in den Abend, der von einer achtköpfigen Komparserie verstärkt wird. Mondtags Zugang, dem schwer zu verdauenden Stoff bisweilen penetrante musikalische Beschwingtheit entgegenzusetzen, ist ein praktikables Vehikel, Fragen in den Köpfen des Publikums aufzuwerfen.
Am Ende wurden sowohl die Kräfte auf und hinter der Bühne als auch im Orchestergraben lautstark gefeiert. Mondtags Einstand am Burgtheater ist gelungen, 2025 folgt dann die Staatsoper. Mit seiner die Musik auf eine gleichwertige Ebene hebende Art zu inszenieren, einer präzisen Ensembleführung und scharfem Blick für Individuen, verdeutlicht er mit "Toto" seinen Rang als einer der gefragtesten Regisseure, dem das Burgtheater in der jungen Ära Bachmann einen weiteren absehbaren Erfolg beschert hat.
(Von Sonja Harter/APA)
S E R V I C E - "Toto oder Vielen Dank für das Leben" von Sibylle Berg im Burgtheater, Regie und Bühne: Ersan Mondtag, Kostüme: Teresa Vergho, Komposition und Musikalische Leitung: Beni Brachtel. Mit: Bruno Cathomas, Gunther Eckes, Maria Happel, Sabine Haupt, Alexandra Henkel, Daniel Jesch, Dietmar König, Annamária Láng, Elisa Plüss, Markus Scheumann und Orchester. Nächste Vorstellungen: 30.10., 1.11., 6.11., www.burgtheater.at)
Zusammenfassung
- Ersan Mondtag inszeniert am Burgtheater 'Toto oder Vielen Dank für das Leben', basierend auf Sibylle Bergs Roman von 2012.
- Maria Happel spielt ein intersexuelles Kind, das in der DDR Gewalt und Ablehnung erfährt, und später versucht, als Sängerin in Hamburg Fuß zu fassen.
- Die Inszenierung kombiniert melancholische Themen mit bunten Spektakeln und umfasst 21 Lieder, die von Beni Brachtel komponiert wurden.
- Mondtags Bühnenbild wandelt sich von einer Klinik zu einem Kinderheim und schließlich zu einer Bar, was die Entwicklung der Hauptfigur widerspiegelt.
- Die Aufführung am Burgtheater wird gefeiert, und Mondtag plant bereits seine nächste Inszenierung an der Staatsoper 2025.