"Gratulieren müsst ihr mir nicht": Debüt von Lilli Polansky
"Diese Geschichte ist komplett frei erfunden. Bis auf all die Teile, die wahr sind", heißt es zu Beginn dieses Debütromans. Mit der Zeit hofft man immer inständiger, dass es doch fiktionale Anteile in diesem Buch gibt, das offenbar Teil einer Krisenbewältigungs-, ja Überlebensstrategie ist. Da hat man schon länger die Übersicht über eine Krankengeschichte verloren, die bei ständiger Müdigkeit und Eisenmangel beginnt, einen Hirntumor als beiläufige Episode behandelt, über die Einsetzung eines Herzschrittmachers bis hin zu einer dramatischen Notoperation reicht, nach der ein Arzt erklärt, "dass ich Glück gehabt hätte, im AKH gelandet zu sein, denn in jedem anderen Spital wäre ich vermutlich verblutet".
Die gesundheitlichen Probleme, die der jungen Frau das Gefühl geben, im Körper einer 80-Jährigen gefangen zu sein, sind nicht das Einzige, das sie am Leben zweifeln und schließlich in eine Depression hineintreiben lässt. Der Freund lässt sie nach drei Jahren sitzen, sobald Lillis Krankheiten ihn auch selbst behindern, in der Schule bleibt sie oft Außenseiterin, eine ausgeprägte Dyskalkulie setzt sie in Mathematik ordentlich unter Stress, und bei der Matura scheitert sie ausgerechnet in ihrem Lieblingsfach Deutsch.
Die echte Lilli Polansky hat dagegen beim Schreiben alles richtig gemacht. Ihr Roman besticht nicht allein als angewandtes Resilienztraining, sondern dadurch, dass es ihr gelingt, jene Gefühle und Zustände in treffende Worte zu fassen, die all' diese äußerlichen Umstände auslösen und schwer auf ihr lasten. Beeindruckend, wie sehr sie sich dabei dem Kern ihrer Persönlichkeit nähert, ohne auf dieser Suche zu Worthülsen oder Klischees zu greifen, die eine introspektiv geprägte Literaturtradition zur Genüge bereithielte.
Immer wieder spalten sich Körper und Geist auf, denn Schmerzbewältigungsstrategien und Ohnmachten sind ständige Begleiter der Protagonistin. Den Drang, loslassen zu wollen von der Hülle, um das Leid hinter sich zu lassen und endlich Ruhe und Frieden zu finden, kennt sie gut. Einmal ist sie sich sicher, dass nur mehr ihre Seele im Operationssaal anwesend ist, während am Körper rein mechanisch hantiert wird.
Am eindrucksvollsten wird diese Fähigkeit zur plastischen Beschreibung deutlich, wenn Lilli in psychotherapeutischen Sitzungen zum Reden aufgefordert wird. Dann schildert sie etwa, dass sie mit sich hadert, nicht bei der Operation gestorben zu sein. Das wäre das Einfachste und Leichteste für alle Beteiligten gewesen. Zu spät. Chance verpasst. "Wenn ich darüber nachdenke, dass ich mich umbringen will, dann merke ich, dass ich nicht mal die Kraft hätte, es zu tun. Es wäre schlicht und einfach zu anstrengend. Dann denke ich, dass ich am Leben bleiben muss; mir bleibt praktisch nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass alles besser wird."
Am Ende ist die Farbe ihres Zustands in Lillis Beschreibung von "Dunkelgrün, fast Schwarz" (eine Reverenz vor Kollegin Mareike Fallwickl, die ihr Debütbuch so nannte?) in "Hellgrün" gewechselt. Grün wie die Hoffnung. Die große Narbe freilich bleibt - "und sie erinnert mich täglich daran, dass ich eine Kämpferin bin". Und auch der kleiner Hamster, der sich "zwischen meinem Gehirn und den Schädelknochen eingenistet hat", und dessen Hamsterrad "ein schrilles Quietschen von sich gibt, wenn er sich darin niederlässt", wird wohl noch nicht endgültig das Weite gesucht haben. Sein Hamsterrad immerhin dürfte Lilli Polansky mit diesem Buch richtig gut geölt haben.
(S E R V I C E - Lilli Polansky: "Gratulieren müsst ihr mir nicht", Schöffling & Co; 272 Seiten, 22,70 Euro)
Zusammenfassung
- Lilli Polansky, geboren 2001 in Wien, beschreibt in ihrem Roman 'Gratulieren müsst ihr mir nicht' eine Vielzahl von gesundheitlichen, privaten und schulischen Katastrophen, die ihrer Protagonistin widerfahren.
- Der Roman thematisiert gesundheitliche Probleme wie ständige Müdigkeit, Eisenmangel, einen Hirntumor und eine dramatische Notoperation, sowie Depressionen und schulische Schwierigkeiten.
- Am Ende des Romans wechselt die Beschreibung des Zustands der Protagonistin von 'Dunkelgrün, fast Schwarz' zu 'Hellgrün', was Hoffnung symbolisiert, während der Roman als angewandtes Resilienztraining beschrieben wird.