APA/APA/THEATER IN DER JOSEFSTADT/CHRISTIAN WIND

Emanzipation von der Vorlage: "Lulu" in den Kammerspielen

Das Textbuch liegt auf der Bühne gut sichtbar in einer Vitrine, und immer wieder wird darauf Bezug genommen: "Das steht dort so geschrieben!" Und doch wird der Text von Frank Wedekinds "Lulu" in Elmar Goerdens Inszenierung in den Kammerspielen der Josefstadt keineswegs für sakrosankt genommen. Das ist auch gut so - und gibt der jungen Johanna Mahaffy in der Titelrolle Gelegenheit, aufzubegehren gegen die männlichen Zuschreibungen und Begrapschungen. Ein sehenswerter Abend!

Im Programmheft erfährt man, dass das Stück ein Vorschlag des Regisseurs war: "Ich habe gesagt: Ich will das Feld zwischen uns und 'Lulu' erforschen." Das ist vielleicht kein zwingender Grund, dieses Stück, in dem misogyne Frauenbilder in einer Art und Weise verhandelt werden, die einem die Schamesröte ins Gesicht treibt, heute zu spielen, und das, was Goerden bei seiner Forschungsarbeit entdeckt, ist auch nicht wirklich erstaunlich.

Überraschend ist hingegen, dass das szenische Konzept aufgeht, dass man sich fast zwei Stunden lang mit dem Text befassen kann, in dem eine Frau die Männer reihenweise in den Wahnsinn treibt und am Ende selbst zugrunde geht, diesen kritisch hinterfragen kann, ohne ihn zu desavouieren, und dass das von Anfang bis zum Ende spannend ist.

Es beginnt in dem abstrakten, auf Pinselstriche anspielenden Raum von Ulf Stengl und Silvia Merlo mit einer Verweigerung. Lulu will nicht stillsitzen, will sich weder als Modell noch als Porträt von den Männern begaffen lassen. "Jetzt geht die ab!", konstatiert Joseph Lorenz konsterniert. Kann sich die Kollegin nicht an die Spielregeln halten? So ein Pech aber auch, dass die von lauter Männern gemacht werden, deshalb: "Augen auf bei der Berufswahl!" Das unmerkliche Springen vom Original zum Kommentar, von der Rolle zum Schauspieler, ist das Kennzeichen des Abends.

Dieser Kippeffekt findet immer wieder statt - und funktioniert hervorragend. Auch, weil es in dieser auf fünf Personen reduzierten Fassung eine klare Rollenverteilung gibt: Die Männer sorgen für die komischen Einlagen, die Frauen kämpfen um ihr Leben. Joseph Lorenz ist neben Dr. Schön noch als Casti-Piani und Jack the Ripper im Einsatz, Michael König spielt Dr. Goll im Trachtenanzug, Rodrigo augenzwinkernd mit Trainingsanzug und Schnurrbart, Schigolch als abgründig-bösen Greis und ist zwischendurch auch als Pizzabote im Einsatz (Lulu bekommt eine Kinderportion Spaghetti). Martin Niedermair spielt als Eduard Schwarz und Alwa seine Vielseitigkeit aus und darf als Schweizer in London VALIE EXPORTs Tapp- und Tastkino an Lulu erproben.

Susa Meyer beeindruckt als ehrlich liebende Gräfin Geschwitz, die von Lulu nur zur Kasse gebeten und ausgenutzt wird. Bleibt die 24-jährige Johanna Mahaffy, die bei ihrer ersten Hauptrolle nahezu pausenlos auf der Bühne ist und dabei ständig das Tempo vorgibt. Sie tanzt, spielt Klavier, fegt über die Bühne, schreit mit den Männern, hadert mit dem Text, verführt und manipuliert, hantiert nüchtern mit dem Rasiermesser ("Nicht, dass du dir noch was antust!") und lasziv mit einem Solospargel, und muss zweideutig über ihr "Honigtöpfchen" reden lassen: "Was tut man nicht alles aus Treue zum Text!"

Nur sich am Ende von Jack the Ripper umbringen lassen, das ist dann doch etwas zu viel verlangt. So endet die Inszenierung nicht mit einem Mord, sondern mit einem Monolog. Und einem alles auflösenden Schlusssatz: "Dieser ganze Quatsch - eigentlich ist es ja zum Lachen, denn selbst DER Satz ist nicht von mir." Viel Applaus bei der Premiere am Samstagabend, und sichtbare Erleichterung beim Team. Das Experiment ist geglückt. Und die Josefstadt hat einen neuen Jungstar.

(S E R V I C E - Frank Wedekind: "Lulu", Regie und Bearbeitung: Elmar Goerden, Bühnenbild und Video: Silvia Merlo & Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner, Musik: Imre Lichtenberger Bozoki, Mit: Johanna Mahaffy (Lulu), Susa Meyer (Martha Gräfin von Geschwitz), Joseph Lorenz (Dr. Franz Schöning), Michael König (Dr. Goll; Schigolch; Rodrigo), Martin Niedermair (Eduard Schwarz; Alwa Schöning), Kammerspiele der Josefstadt, Nächste Vorstellungen: 29.10., 3., 4., 5.11., Karten und Info: 01 / 42 700-300, www.josefstadt.org)

ribbon Zusammenfassung
  • Das Textbuch liegt auf der Bühne gut sichtbar in einer Vitrine, und immer wieder wird darauf Bezug genommen: "Das steht dort so geschrieben!"
  • Und doch wird der Text von Frank Wedekinds "Lulu" in Elmar Goerdens Inszenierung in den Kammerspielen der Josefstadt keineswegs für sakrosankt genommen.
  • und lasziv mit einem Solospargel, und muss zweideutig über ihr "Honigtöpfchen" reden lassen: "Was tut man nicht alles aus Treue zum Text!"