Die Ära Geyer am Theater an der Wien endete mit Kindsmord
Der Vorhang geht auf - und man sieht ein Bühnenbild von Otto Schenk aus den 1970ern. Als kämen gleich Anneliese Rothenberger und René Kollo die Treppe im ruralen Mühlenambiente herunter. De Beer ist an sich eine herausragende Regisseurin mit der Fähigkeit, für jedes Werk einen neuen, stimmigen Ansatz zu wählen. Dieser bleibt bei der "Jenůfa" jedoch leider nur halb gar. Sie setzt die Geschichte des Dorfmädchens Jenůfa, das von seiner vermeintlichen Liebe schwanger und dann verlassen wird, worauf ihre Stiefmutter, die Küsterin, das Baby ertränkt, um ihr die Schande zu ersparen, als Erinnerung der bereits verurteilten Küsterin in Szene.
Aus dieser Perspektive wäre das unfassbar hässliche Anfangsbild als nostalgische Erinnerung einer Gescheiterten zu verstehen - was einem als Zuschauer nur begrenzt hilft, muss man doch die erste Dreiviertelstunde in diesem altbackenen Albtraum verbringen. Svetlana Aksenova sieht als Bauernmädchen Jenůfa in Landkostüm aus wie das Model in einer Biomilchwerbung, und an den Laken, die zusammengelegt werden, hängen noch die Etiketten.
Diese Auftaktszenerie verengt sich in den folgenden Szenen allerdings zusehend, taucht die Lichtführung doch die Welt zunehmend ins Dunkel, ins Graue, verengt die Spielräume der Figuren. Sexuelle Gewalt, die Isolation der Charaktere in einer tristen Umwelt, Schatten, die nach den Menschen ausgreifen. Vieles wird angedeutet, in kurzen Sequenzen eingeflochten, aber vielfach nicht konsequent zu Ende geführt.
Dass diese "Jenůfa" dennoch in Summe aufgeht, ist vor allem der großen Nina Stemme zu verdanken. Die legendäre Wagner-Interpretin holt bei ihrem persönlichen Rollendebüt als Küsterin alles aus der Figur. Sie macht sie letztlich zum weit spannenderen Charakter als die Titelfigur, zur Personifizierung der absoluten Mutterliebe, die zu töten bereit ist für das Glück ihres Stiefkindes und daran zerbricht. Die 58-jährige Schwedin ist das Zentralgestirn dieses engen familiären Kosmos, in dem der eine Stiefbruder die Ziehtochter der Stiefmutter liebt, der andere Stiefbruder aber auch.
Dabei kann sich die übrige Besetzung durchaus sehen lassen, überzeugt doch Svetlana Aksenova nach der "Zazà" am TaW erneut, was auch für Pavol Breslik als Gigolo Števa und Pavel als guter Lodsch Laca bei ihrem jeweiligen Hausdebüt gilt. Bei Stemme als Chefin im Ring muss man aber einfach auch mal vornehm zurückstehen.
Den Abend rundet Marc Albrecht im Graben ab, der mit dem RSO eine äußerst griffige Interpretation der 1904 uraufgeführten Partitur abliefert, die sich nicht in der Herrichtung einer melodiösen Spielfläche für das Tschechische erschöpft und die volksmusikalischen Passagen nicht zu sehr ausspielt. Die Bilanz: Ein routinierter, guter, stimmiger Babymord, mit dem eine Ära im Theater an der Wien endete - keine Sternstunde. Aber das mag vielleicht auch eine Höflichkeitsgeste für den neuen Intendanten Stefan Herheim sein, der dann kommende Spielzeit in der Ausweichspielstätte Museumsquartier loslegt.
(S E R V I C E - "Jenůfa" von Leoš Janáček im Theater an der Wien, Linke Wienzeile 6, 1060 Wien. Musikalische Leitung des RSO: Marc Albrecht, Regie: Lotte de Beer, Bühne: Christof Hetzer, Kostüme: Jorine van Beek. Mit Jenůfa - Svetlana Aksenova, Küsterin - Nina Stemme, Števa - Pavol Breslik, Laca - Pavel Cernoch, Stařenka - Hanna Schwarz, Stárek - Zoltán Nagy, Richter - Alexander Teliga, Richtersgattin - Václava Krejcí Housková, Karolka - Valentina Petraeva, Pastuchyňa - Natalia Kawalek, Barena - Juliette Mars, Jano - Anita Rosati. Weitere Aufführungen am 21., 24., 26. {dieser Termin wird live in Ö1 übertragen} und 28. Februar. www.theater-wien.at/de/programm/production/1020/Jenufa)
Zusammenfassung
- Nach rund 170 Opern und dreitägiger Omikron-Verschiebung geht die Ära von Gründungsintendant Roland Geyer am Theater an Wien mit "Jenůfa" zu Ende - wenn man von zwei Werken absieht, die noch in der Nebenbühne Kammeroper anstehen.
- Doch das Farewell für den Kollegen mit Leoš Janáček fiel ambivalent aus.
- (S E R V I C E - "Jenůfa" von Leoš Janáček im Theater an der Wien, Linke Wienzeile 6, 1060 Wien.