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80 Jahre Kriegsende - "'Nie wieder' heißt viel Arbeiten"

Heute, 04:29 · Lesedauer 4 min

Auch 80 Jahre nach der Vernichtung von sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkrieges ist Antisemitismus nicht verschwunden. Es gebe "viel Kontinuität antisemitischer Einstellungen und Handlungen", sagt der Forscher Gerald Lamprecht. Der Gründungskonsens des vereinten Europas, das 'Nie wieder', bedeutet ein beständiges und permanentes Arbeiten an der Gesellschaft, an der Politik, um gegen Tendenzen der Faschisierung vorzugehen".

Bis 1945 war Antisemitismus "zentraler Bestandteil des öffentlichen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Diskurses", erklärt der Historiker und Leiter des Centrums für Jüdische Studien der Universität Graz. Die Situation von damals sei jedoch mit heute nicht vergleichbar, betont Lamprecht im Gespräch mit der APA. Antisemitismus sei zwar mit dem Ende des NS-Regimes nicht verschwunden, er habe sich in den letzten 80 Jahren sehr wohl verändert. Mit der Erfahrung und dem Wissen über den Holocaust sei öffentliches antisemitisches Sprechen diskreditiert. Antisemitismus trete häufig codiert und in Anspielungen in Erscheinung, indem etwa von "Kreisen an der US-Ostküste" gesprochen werde.

Gerade die Zeit der Coronapandemie ab 2020 habe gezeigt, dass "scheinbar erfolgreich überwunden geglaubte antisemitische Verschwörungserzählungen unter der Oberfläche weiterexistierten und schnell reaktiviert werden können", sagt Lamprecht. Verschwörungserzähler fänden dann plötzlich relativ rasch "Schuldige" und griffen auf lange eingeübte antisemitische Muster zurück. Dass Impfgegner den gelben Judenstern mit der Aufschrift "ungeimpft" getragen hatten, sei ein "Missbrauch der Holocaust-Opfer, um sich selbst in eine Opferrolle zu bringen", erklärt der Experte.

Studien zeigen nach Angaben von Lamprecht, dass es seit den 2000er-Jahren eine kontinuierliche Zunahme antisemitischer Vorfälle gibt. Ab dem Jahr 2023, also dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel, haben diese "noch mal massiv" zugenommen. Vorwürfe von Israel-Kritikern, dass das, was die israelische Regierung jetzt mit den Palästinensern im Gazastreifen mache, das Gleiche sei wie das, was die Nazis mit den Juden gemacht hätten, seien aus Sicht des Experten nicht zulässig. "Das hat viel mit Schuldabwehr zu tun." Die Intention dieser Form des Antisemitismus sei Schuldabwehr und eine Relativierung des Holocaust. Diese Debatte sei unabhängig von der Frage zu betrachten, wie das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen völkerrechtlich einzuordnen sei.

Viel Unwissen vorhanden

Wichtig sei Aufklärung, betont Lamprecht. Über die Geschichte des Nahost-Konflikts sei sehr viel Unwissen vorhanden. Es brauche außerdem Aufklärung darüber, was Antisemitismus sei. Dass es immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gebe, sei ein großer Verlust für die Aufklärungs- und Bildungsarbeit. Doch es gebe tausende Videointerviews mit Holocaust-Überlebenden, mit denen in der Zukunft gearbeitet werden könne, und auch nachkommende Generationen könnten ihr Wissen weitergeben. Lamprecht erwähnt auch das Projekt LIKRAT der Israelitischen Kultusgemeinde, bei dem jüdische Jugendliche Gleichaltrige in Schulen über das Judentum aufklären.

Eine größere Relevanz bei der Vermittlung der Geschichte erfahren zukünftig mit dem Holocaust und der Geschichte des Nationalsozialismus verbundene Orte, etwa Gedenkstätten oder Erinnerungszeichen wie die Stolpersteine, die in zahlreichen Städten an jüdische und weitere Opfer des Naziregimes erinnern. Lamprecht selbst betreibt mit Kolleginnen und Kollegen seit Jahren das Projekt "Digitale Erinnerungslandschaft Österreichs" (DERLA), das österreichische Erinnerungsorte und -zeichen für die Opfer sowie die Orte des Nazi-Terrors dokumentiert. Rechtlich gesehen sei aber auch das Verbotsgesetz zentral im Kampf gegen Antisemitismus.

"Um einem 'Nie wieder' gerecht zu werden, sind wir gefordert, dafür Sorge zu tragen, dass es nie wieder passiert", betont Lamprecht. Damit einhergehend seien Bemühungen zentral, diese Worte "nicht zur leeren Phrase verkommen zu lassen oder in Gedenkritualen zu erstarren", ergänzt er. "So wie wir momentan leben und leben dürfen seit 1945, nämlich in Frieden und beständigem, zunehmendem Wohlstand, das ist nichts Selbstverständliches, sondern das bedarf der beständigen Arbeit" - und zwar von jedem und jeder einzelnen.

Holocaust 1942 im Detail geplant

Die systematische Ermordung von Juden, die später Holocaust oder Shoah genannt wurde, hatten die Nationalsozialisten um NS-Führer Adolf Hitler bei der Wannsee-Konferenz im Jänner 1942 im Detail organisiert. Millionen von Menschen wurden in Konzentrations- und Vernichtungslagern systematisch ermordet - unter anderem in Gaskammern - oder starben an den lebensfeindlichen Bedingungen in den Lagern sowie bei Todestransporten. Das Ziel der Nazis war es, Europa "judenfrei" zu machen.

(Das Gespräch führte Alexandra Demcisin/APA.)

Zusammenfassung
  • Auch 80 Jahre nach dem Holocaust, bei dem sechs Millionen Juden ermordet wurden, ist Antisemitismus weiterhin präsent und zeigt eine beunruhigende Kontinuität.
  • Studien belegen seit den 2000er-Jahren eine kontinuierliche Zunahme antisemitischer Vorfälle, die nach dem Hamas-Überfall auf Israel 2023 massiv zunahmen.
  • Gerald Lamprecht betont die Bedeutung von Aufklärungsarbeit, um das 'Nie wieder' zu verwirklichen, und verweist auf Projekte wie LIKRAT und DERLA als zentrale Elemente.