Der neue Roman von Uwe Tellkamp ist herausfordernde Lektüre
Der 53-Jährige hätte lieber den Untertitel "Archipelagus I" auf dem Cover gehabt. Die Gegend aus dem ersten Buch ist erweitert um den fiktiven Stadtstaat Treva, die Landschaften Argo und Brenta. Elbischer Fluss und Rhein fast parallel sowie Elbe eins bis vier. "Das ist ein Phantastikum, mit Oberhaus, Unterhaus, Königshaus, Adel, einer Inselstruktur", sagt er.
Ohne Vorwarnung geht es in die Katakomben der Kohleninsel, in ein Labyrinth unter Tage. Der einstige "Turm"-Dissident Fabian Hoffmann ist Protagonist und Erzähler, wie im Ursprungstext, der einfloss in die 900 Seiten. Schon früh ist klar: Die Geschichte der Türmer wird nicht nahtlos weiter erzählt nach dem 9. November 1989, dem Ende des ersten Romans. Das "Logbuch" beginnt am 1. August 2015 und endet am 31. August 2015.
Fabian ist Lektor in der "Tausendundeinenachtabteilung", einem Überbleibsel der Stasi. Sie steuert als Propagandazentrum und Geheimdienst Politik und öffentliche Meinung, im Verbund mit den wichtigsten Medien. Fabian soll an einer Chronik zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung mitschreiben. Eigentlich aber will er mit Hilfe der "Sicherheit" herausfinden, wer einst die Ausreisepläne seiner Eltern und Schwester aus der DDR verraten hat. Auf seiner Suche nach Sinn und Ordnung kämpft er gegen Windmühlen der Macht, Fälschungen der Wirklichkeit, Verlust aller Sicherheiten.
Auch Anne Hoffmann ist eine Hauptfigur, als Kanzlerin von Treva. "Aber eben keine Merkel", sagt Tellkamp. Treva sei nicht die Bundesrepublik, sondern ein Stadtstaat, wie im alten Griechenland. Dennoch hat Annes Aufstieg zur Regierungschefin deutliche Parallelen zu dem von Angela Merkel.
Viele Zeitebenen, der Wechsel von Fiktivem und Realem in Vergangenheit und Gegenwart sowie schwer durchdringbare Passagen erschweren beim Lesen Orientierung und Verständnis. Nachkriegsgesellschaft und Literaturbetrieb in BRD und DDR, der Herbst 1989 und die Monate danach, aber auch die Flüchtlingskrise 2015 stehen im Fokus - neben den privaten Verwicklungen von Fabian.
Im "Turm" (2008) hatte Tellkamp die letzten Jahre der DDR von 1982 bis 1989 im bürgerlichen Dresdner Milieu aufgearbeitet und dafür unter anderem den Deutschen Buchpreis erhalten. Seit seinen Äußerungen über Flüchtlinge und angeblich drohende Repressionen gegen Andersdenkende in Deutschland 2018 steht er in der Kritik. "Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent", sagte er damals. Und: Wer sich kritisch äußere, werde gleich in die rechte Ecke gestellt.
Sein Verlag ging auf Distanz, in sozialen Medien gab es Kritik, aber auch Zuspruch für Tellkamp. "Das Wörtchen "um" war das Problem", sagt er. Es sei nichts Verwerfliches, nach einem besseren Leben zu suchen, er würde das genauso machen. Deutschland habe eine gewisse Pflicht zur Aufnahme, aufgrund seiner Geschichte. "Aber es braucht eine Debatte darüber, wer zu uns kommen darf und warum."
Auch über andere Probleme, Verwerfungen und Spannungen in der Gesellschaft, "muss diskutiert werden können, und das sanktionsfrei", sagt Tellkamp. Stattdessen gebe es einen "Gesinnungskorridor" zwischen gewünschter und geduldeter Meinung. "Undifferenziertheit stört mich."
Viele Zeitebenen, der ständige Wechsel in Zeit und Raum, von Fiktion und Realität erschweren Orientierung und Verständnis beim Lesen. Wie bis ins Kleinste verästelte Beschreibungen, Schachtelsätze, zuweilen verliert sich der Faden im Nichts, wie Gedanken. Für Tellkamp gibt es Parallelen im Zeiterleben 1989 und 2015, im Nicht-Weiter-Wissen und der Agonie. "Keiner hat mehr an das System geglaubt, selbst dessen Vertreter nicht mehr, es existierte noch, wie aus Gewohnheit, wie innerlich zerfressene Termitenbauten."
Das Ende von Fabians Job ist schon auf den ersten Seiten klar: "Die Chronik ist teils in Quarantäne, teils im Homeoffice, letzteres auf unbestimmte Zeit", notiert er am 10. November 2021, ein Vorausblick. "Treva hat sich verändert. Nur erscheinen die Jahre vor 2015 wie eine kaum mehr glaubhafte, im Unwirklichen versinkende Zeit." Aber Archipelagus ist als Zyklus angelegt. Wende, Treuhand und auch der weitere Weg von Fabian seien zum Teil schon da. "Es gibt etwa 2000 Manuskriptseiten", sagt Tellkamp. Vieles davon müsse aber noch überarbeitet werden.
(S E R V I C E - Uwe Tellkamp: "Der Schlaf in den Uhren", Suhrkamp, 904 Seiten, 32,90 Euro)
Zusammenfassung
- In den Jahren nach seinem preisgekrönten Roman-Erstling "Der Turm" hat Uwe Tellkamp zuweilen schon in den geplanten Nachfolger "Lava" blicken lassen.
- Mehrfach verschoben erscheint der Roman "Der Schlaf in den Uhren" nun am Montag.
- Der Nukleus ist älter als der "Turm" - mit dem gleichnamigen Text gewann Tellkamp 2004 den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.
- Für Tellkamp gibt es Parallelen im Zeiterleben 1989 und 2015, im Nicht-Weiter-Wissen und der Agonie.