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DDR, Anfang bis Ende: "Das Narrenschiff" von Christoph Hein

27. März 2025 · Lesedauer 5 min

Christoph Hein. An diesem DDR-Autor kam man in den 1980ern auch im Westen nicht vorbei. Die Novelle "Drachenblut", die Stücke "Die wahre Geschichte des Ah Q" und "Die Ritter der Tafelrunde" waren Pflichtlektüre. Zuletzt war es um den Autor, der 2004 fast Intendant des Deutschen Theaters geworden wäre, etwas ruhiger gewesen. Mit einem 750-seitigen Roman meldet sich der bald 81-Jährige nun zurück. "Das Narrenschiff" widmet sich der Geschichte der DDR in aller Ausführlichkeit.

Als Hein 2015 Ehrengast des Waldviertler Festivals "Literatur im Nebel" war, merkte er angesichts der damals besonders akuten Flüchtlingsproblematik an, Europa werde sich in den nächsten Jahrzehnten "heftig verändern", doch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hasse Veränderungen. Er hoffe auf eine Welt, in der man leben könne, ohne sich aufs Überleben konzentrieren zu müssen. Das Vertrauen in den Slogan "Nie wieder Krieg" habe er allerdings verloren. Das waren prophetisch klingende Worte, bei denen man hoffte, sie würden in visionäre Prosa gegossen werden. Doch Hein, der "Chronist ohne Botschaft", blieb auch in der Folge bei seinem Lebensthema - der nüchternen Rückschau auf die Entwicklung jenes Staates, der ihn geprägt hat.

"Das Narrenschiff" wirkt nun wie eine gründliche Zusammenfassung, ein Geschichtenbuch für jene, die die DDR nur im Geschichtsunterricht kennenlernten - gründlich, aber auch betulich. In den zentralen Lebensläufen, denen er folgt, wird zwar der ideologische Weltverbesserungsanspruch und die antifaschistische Grundhaltung des ostdeutschen Gegenmodells gegen den "Westen" sichtbar, aber auch jener Mief und jene opportunistische Autoritätsgläubigkeit, die den Staat für viele lange zum Gefängnis machte.

Fein säuberlich schildert Hein den Lauf der Dinge vom Anfang bis zum Ende, vom Einfliegen der ersten deutschen kommunistischen Führungskader aus Moskau, sobald die Schlacht um Berlin geschlagen war, bis zur Wiedervereinigung, die keine Einheit herstellte, sondern viele verstörte und neues Leid anrichtete. Begeisternd ist am "Narrenschiff" nichts, weder der Erzählstil noch seine Figuren. "Die Menschen, über die ich schreibe, sind keine Verbrecher, es sind Narren", begründete der Autor im Interview mit der "Berliner Zeitung" seine an Sebastian Brants spätmittelalterliche Satire angelehnte Titelwahl. "Sie haben versucht, einen demokratischen, antifaschistischen Staat zu errichten. Oft recht ungebildete Leute, die eine absurde Wirtschaftspolitik betrieben (...) Es war alles absurd, es war eine Narretei."

Figuren der eigenen Verwandtschaft nachempfunden

Heins Figuren machen meist, was ihrer Meinung nach getan werden muss. So, wie eine junge Witwe, die den Werbungen des um 18 Jahre älteren, kriegsversehrten Metallurgie-Experten und Funktionärs Johannes Goretzka rasch nachgibt, um sich und ihr Kind versorgt zu wissen. Später gibt sie dem Drängen ihres Gatten, der seine NS-Vergangenheit mit allen Mitteln verbergen möchte, nach und tritt widerstrebend der SED bei. Eine Vernunft-, aber keine Herzensentscheidung. Die sich bezahlt macht: Yvonne Goretzka bleibt nicht einfache Sekretärin, sondern macht Karriere in der Kulturverwaltung.

Ihre Tochter Kathinka, deren jüdischer Vater von den Nazis umgebracht wurde, sorgt für das erste prägnante Bild des Romans: Bei einem Schulbesuch von Wilhelm Pieck darf sie als Klassenbeste neben dem ersten Präsidenten der DDR sitzen. Er sei nie Klassenbester gewesen, flüstert er dem Mädchen vertraulich zu. "Warum sind Sie dann der Präsident geworden und nicht der Klassenbeste?", flüstert diese zurück. "Ja, siehst du, das weiß ich auch nicht. Es hat sich so ergeben." Es ist einer der wenigen witzigen Momente in dem Buch. Das liege auch daran, dass er seine Figuren aus realen Vorbildern zusammengesetzt habe, meint Hein. Johannes Goretzka sei etwa seinem Schwiegervater nachempfunden - und daher total humorlos. Bei Kathinka habe er an seine verstorbene Frau Christiane gedacht. Sie wird in Leipzig an jenen Protestmärschen teilnehmen, die den Anfang vom Ende der DDR bedeuten.

Verbürgtes Insiderwissen eingearbeitet

Mit Yvonne und Johannes Goretzka, ihren Bekannten Rita und Karsten Emser sowie dem Literaturwissenschaftsprofessor Benaja Kuckuck hat Christoph Hein ein Personal, das alle entscheidenden Etappen der DDR miterlebt und kommentiert. Sie alle versuchen letztlich, möglichst unauffällig und gleichzeitig für sie möglichst vorteilhaft durchs Leben zu kommen. Den Traum vom realen Sozialismus, der sich als besseres Gesellschaftsmodell als der ausbeuterische Kapitalismus erweisen müsse, träumen nur wenige tatsächlich. Christoph Hein ist da ziemlich illusionslos.

Auch Walter Ulbricht, zwei Jahrzehnte lang der mächtigste Politiker der DDR, hat in "Das Narrenschiff" rasch ausgeträumt. In Heins Roman hält er das Land nach dem Krieg nur für überlebensfähig, wenn es Pommern und Schlesien zurückzubekommt. Stalin setzt dagegen auf Polen und erteilt den Rückgabeforderungen der deutschen Genossen 1951 eine klare Absage. Auch beim jähen Ende von Ulbrichts Karriere packt Hein nach eigener Aussage verbürgtes Insiderwissen hinein: Seine Entmachtung durch Erich Honecker 1971 sei ein von Maschinenpistolen im Anschlag begleiteter erpresserischer Polit-Coup gewesen, ist in "Das Narrenschiff" zu lesen. Narren vielleicht, aber gefährliche Narren. Parallelen zur Gegenwart scheinen auf der Hand zu liegen. Wohin aber der Schlingerkurs des heutigen Narrenschiffs führen wird, ist völlig ungewiss.

(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - Christoph Hein: "Das Narrenschiff", Suhrkamp Verlag, 752 Seiten, 28,80 Euro)

Zusammenfassung
  • Christoph Hein, ein bedeutender DDR-Autor, hat mit seinem neuen 750-seitigen Roman 'Das Narrenschiff' die Geschichte der DDR umfassend aufgearbeitet.
  • Der Roman, erschienen im Suhrkamp Verlag, behandelt die ideologischen und gesellschaftlichen Aspekte der DDR, einschließlich der antifaschistischen Grundhaltung und der autoritären Strukturen.
  • Heins Figuren basieren auf realen Vorbildern und erleben verschiedene Etappen der DDR-Geschichte, darunter die Entmachtung von Walter Ulbricht durch Erich Honecker.
  • Der Roman enthält verbürgtes Insiderwissen und zeichnet ein illusionsloses Bild der DDR, das Parallelen zu aktuellen politischen Entwicklungen aufzeigt.
  • Christoph Heins Darstellung der DDR als 'Narrenschiff' zeigt die Absurdität des Systems und die Herausforderungen, denen die Menschen gegenüberstanden.