Bregenzer "Tancredi" mit Frauenliebe und Mafiamorden
Im Kern geht es bei "Tancredi" um die junge Amenaide, die als Faustpfand zweier verfeindeter Familien im Syrakus des Mittelalters den Anführer der gegnerischen Fraktion heiraten soll, um Frieden zu stiften. Gloger verlegt das Geschehen aus dem 11. Jahrhundert in das Mafiamilieu von heute. Und die archaische Gesellschaft verfeindeter Familien, die nach strengem Ehrenkodex agiert, passt erstaunlich nahtlos in die allgemeine Vorstellung eines Mafiaclans im 21. Jahrhundert.
Dass der Regisseur dabei die Hosenrolle des stets von einem Mezzo oder Alt gesungenen Tancredi, dem geheimen Liebhaber Amenaides, nun invertiert tatsächlich als Frau liest, fügt sich ebenfalls stimmig in diese Lesart ein. Die Homosexualität als Hintergrund für das Außenseitertum des Liebespaares zu nehmen, ist schlicht logisch.
Die von Salzburg über Wien bis nach Bregenz höchst erfolgreiche Französin Mélissa Petit stellt hierbei als Amenaide eine ganz formidable Belcanto-Stimme unter Beweis, fließend, versatil, in höchsten Höhen entschwindend und doch profunde. Ihr zur Seite steht die Russin Anna Goryachova, jüngst bei den Festwochen in der "Clemenza" zu hören, mit ebenso tragfähigem Mezzo. Als Paar deklassieren die beiden Damen stimmlich die Männerriege im Ensemble und bilden als berührendes Liebespaar nach der Agathe und dem Ännchen tags zuvor in Philipp Stölzls "Freischütz" bereits das zweite lesbische Liebesgespann der heurigen Festspiele.
Insofern holt Jan Philipp Gloger mit seinem Opern-"Gomorrha" das Beste aus dem "Tancredi" heraus. Und doch bleibt musikalisch das Hauptproblem der Opera seria, also der dramatischen Werke, der Belcanto-Ära für Ohren des 21. Jahrhunderts selbstredend bestehen: Sie klingen stilistisch wie die Opera buffa, also die Komödien. Wenn die beste Freundin in Gedanken bei einer zum Tode Verurteilten ist, klingt das im "Tancredi" ebenso wie eine Arie aus dem "Barbiere di Siviglia". Zu sehr lassen die langen Geigenläufe und die schier nicht enden wollenden Kantilenen den späteren Rossini erahnen. Auf musikalischer Ebene sind die Opern für ein heutiges Publikum emotional schlicht unlesbar geworden.
Gloger gibt sich fraglos Mühe, die teils überlangen Arien des Leids theatral zu beleben und hat mit der Stunt-Factory gar eine actiongestählte Truppe auf der Bühne, die als Mafiosi im Hintergrund stets bereit sind, die eine oder andere Schlägerei anzuzetteln. Und doch würde eine radikale Kürzung auf musikalischer Ebene dem "Tancredi" wesentlich mehr Zugkraft verleihen. Mafia-Ehrenwort drauf!
(Von Martin Fichter-Wöß/APA)
(S E R V I C E - "Tancredi" von Gioachino Rossini im Rahmen der Bregenzer Festspiele. Regie: Jan Philipp Gloger, Bühne: Ben Baur, Kostüme: Justina Klimczyk, Licht: Martin Gebhardt, Musikalische Leitung der Wiener Symphoniker: Yi-Chen Lin. Mit Argirio - Antonino Siragusa, Tancredi - Anna Goryachova, Orbazzano - Andreas Wolf, Amenaide - Mélissa Petit, Isaura - Laura Polverelli, Roggiero - Ilia Skvirskii. Weitere Aufführungen am 21. und 29. Juli. https://bregenzerfestspiele.com/de/programm/tancredi)
Zusammenfassung
- Die Inszenierung von Rossinis 'Tancredi' bei den Bregenzer Festspielen wurde von Regisseur Jan Philipp Gloger modernisiert und ins heutige Mafiamilieu verlegt.
- Die Sängerinnen Mélissa Petit und Anna Goryachova brillieren in ihren Rollen und übertreffen stimmlich die männlichen Ensemblemitglieder.
- Die Aufführungen finden am 21. und 29. Juli statt.