Aus der Schieflage: Deutsche Erzählungen von John Wray
Autoren, denen Fiktion und Phantasmen durcheinanderkommen, ein heimlich Pädophiler, der mit der Stieftochter am Rücksitz in die Verkehrskontrolle gerät, ein Bauer, der seinen einzigen Nachbarn oben am Berg zum erbitterten Todfeind mystifiziert: Paranoia und Psychosen, Wunderlinge, Zwielichtige und autistische Eiferer, stets aus der Innensicht. Dass John Wray für diese verirrten Schafe ein guter Hirte ist, einer, der hinschaut und darlegt, nicht unbedingt aber ergründen und sicherlich nicht urteilen will, das hat er schon in seinen früheren Werken bewiesen - zuletzt etwa mit "Gotteskind" (2019) über eine junge Jihadistin.
Auch, dass er erzählerisch ein meisterlicher Architekt ist, dessen narrative Ebenen, Wendeltreppen und Gucklöcher so geduldig und präzise gebaut sind wie feine Origami, war über John Wray bereits bekannt. So, dass es manchmal, von Erzählung über Erzählung neu geschichtet, gar etwas dick aufgetragen wirkt. Neu - und zugleich doch nicht - ist die Sprache. Auf Deutsch ist "alles anders", sagte Wray, der neben seinem Wohnort New York immer wieder bei seiner Familie mütterlicherseits im Kärntner Friesach gelebt hat, der APA damals vor dem Bachmann-Preis, "und das ist auch das Spannende daran. Auf Deutsch denke ich anders, fühle mich anders, wage manches, das ich sonst nicht wagen würde."
Der Bachmann-Preis war ein Versuchsballon, der hoch hinauskam. "Madrigal", die dort prämierte Geschichte, stellt jetzt Auftakt und Titel des Bandes. Da geht es ums Schreiben, um Geschwisterliebe und Selbsthass, um Natursehnsucht und erzählerische Heimtücke. Auch wenn die übrigen Geschichten stark in Länge, Schauplatz, Epoche variieren, von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle bis in die Vorgärten von Suburbia reichen, bleiben viele dieser ersten Zutaten über den schmalen Band hinweg. Amerikanische Literatur in deutschem Gewand? Umgekehrt?
Zweisprachig und auch mit der Literatur beider Sprachen aufgewachsen, wehrt sich Wray gegen eine Identifikation mit der einen oder der anderen Tradition. Und doch kommt man beim Lesen nicht umhin, die Verwandtschaftslinien gerade der österreichischen Erzählkunst, die das Spröde und Liebliche der deutschen Sprache so elementar für emotionale Brüche, halb verdeckte Gräben und böse Doppelböden einzusetzen versteht, in diesen deutschen Texten stärker reflektiert zu sehen, als in Wrays weit ausholenden englischen Romanen. Verstärkt, sicherlich, durch das dichte, brüchige Format der Kurzgeschichte.
Nicht zuletzt ist die Abrechnung mit dem schreibenden Ich, mit der widerspenstigen Sprache und den gefährlichen Stimmen im Hinterkopf, ein hierzulande gut vertrauter Topos. "Und trotzdem: Hier sitzt er, lange nach Mitternacht - bei Kerzenlicht! - und plagt sich mit dem Buch ab, zu dessen Schreiben er sich längst schon nur verurteilt fühlt." Anfang Juni soll Wray das Buch in Österreich persönlich vorstellen.
(S E R V I C E - John Wray: "Madrigal. Erzählungen", Rowohlt Verlag, 144 Seiten. 22,70 Euro. Lesung und Gespräch am 1. 6. im Literaturhaus Graz.)
Zusammenfassung
- Als John Wray 2017 beim Bachmann-Preis seine erste auf Deutsch geschriebene Erzählung vorlas, gab es dafür einhellige Jury-Begeisterung und den Deutschlandfunk-Preis.
- "Madrigal" - das sind acht Geschichten von der US-Mall bis zur österreichischen Alm, sämtlich erzählt aus der psychischen Schieflage.
- "Madrigal", die dort prämierte Geschichte, stellt jetzt Auftakt und Titel des Bandes.
- Lesung und Gespräch am 1. 6. im Literaturhaus Graz.)