Besuch in besetzter Fabrik: Mit Seife gegen den Kapitalismus
Wo eine staubige Schotterstraße zwischen einer mit Stacheldraht umzäunten Militärschule und Industrieruinen ins ausgetrocknete Gestrüpp führt, wurde Geschichte geschrieben.
Nur verrostete Straßenschilder erinnern im Industriegebiet, östlich von Griechenlands zweitgrößter Stadt Thessaloniki, an die Fabrik, die hier einmal Industriekleber und andere Baustoffe herstellte. Das war einmal. Außer Staub, Hitze, und Straßenhunde gibt es hier nicht mehr viel – so der erste Eindruck.
Doch, wer sich durch das verrostete Tor wagt, findet nach einer Kurve eine mit bunten Graffitis besprayte Halle. Von der Sonne ausgeblichene, doch bunte Fahnen wehen im Wind, der vom nahen Meer herzieht.
Symbol des Widerstands
Hier versteckt sich ein Symbol des griechischen Widerstands gegen die Finanzkrise, gegen die folgende Sparpolitik, gegen das kapitalistische System an sich.
Als die Fabrik Vio.Me, wie so viele Firmen im krisengebeutelten Griechenland 2011, ihre Produktion einstellte und die Arbeiter:innen vor dem Nichts standen, besetzten sie die Fabrik einfach und betreiben sie bis heute ohne Eigentümer weiter.
Hier in den Outskirts von Thessaloniki fanden riesige Proteste statt, die auch international für Aufsehen sorgten. Der französisch-spanische Musiker Manu Chao sang hier mit den Arbeiter:innen und die kanadische Journalistin und Aktivistin Naomi Klein kam vorbei, um ihre Solidarität zu bekunden. War es nur ein Experiment, oder ein genereller Ausweg aus der Krise?
Die Finanz- und Staatsschuldenkrise trieb Griechenland zu dieser Zeit an den Rand der Pleite und zeigte der EU erstmals Grenzen auf. Die Währungsunion wurde infrage gestellt, die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten sowieso. Hätte man Griechenland überhaupt in die Eurozone holen dürfen, wurde gefragt.
Harte Sparpolitik
Die "Rettungsschirme" waren an Sparmaßnahmen gebunden, die unter der Aufsicht der "Troika" streng überwacht wurden. Die Arbeitslosigkeit explodierte. Zeitweise war jeder zweite Jugendliche ohne Job. Die Pensionen wurden gekürzt, der Mindestlohn zwischenzeitlich abgeschafft, Arbeitslosengeld und Sozialleistungen gab es kaum noch – Ausgaben für Bildung und Gesundheitssystem ebenso. Mehr als eine halbe Million Griech:innen haben während der Krise ihre Heimat verlassen.
Viele, die blieben, leisteten zunächst Widerstand. Sie wählten die linke Syriza in die Regierung, die über die Sparvorgaben abstimmen ließ. Sogar der "Grexit" stand im Raum. Aber was wurde aus alledem?
Erste Rating-Agenturen meldeten erst kürzlich, dass Griechenland wieder kreditwürdig sei, die Wirtschaft sich erhole. Stimmt das? Was haben Griechenland und die EU aus der Krise gelernt? Und konnte die besetzte Fabrik alternatives Wirtschaften durchsetzen?
Arbeit ohne Chefs
PULS 24 hat in Thessaloniki recherchiert und Antworten auf diese Fragen gesucht.
Bei Vio.Me, dem Ort, der als das Symbol des Widerstands gilt, hat sich einiges geändert, seit die eigentlichen Besitzer die Fabrik aufgegeben haben. Man produziert nun keine Baustoffe mehr, ist auf umweltverträgliche Seife, Wasch- und Putzmittel umgestiegen. Und: Es gibt keine Chefs mehr.
Ein Mann der ersten Stunde, der noch in der alten Fabrik arbeitete und die selbstverwaltete Kooperative mitbegründete, ist der 65-jährige Makis. Er ist in der Produktion tätig und fährt stundenlang in die griechischen Bergdörfer, um die Erzeugnisse von Vio.Me unters Volk zu bringen.
Che-Guevara-Style
Makis - Kappe im Che-Guevara-Style, von den selbstgedrehten Zigaretten vergilbter Bart, Arbeiterhände, besorgte Mine, aber immer für einen Lacher zu haben - schraubt gerade am Motor des Vans herum, mit dem er auf Verkaufstour fährt.
Pünktlich um 13 Uhr setzt er sich mit seinen Kolleg:innen an den Mittagstisch. Nach der oft stundenlangen Morgensitzung, bei der jedes E-Mail, jede Bestellung, jede Entscheidung, die Finanzen im Kollektiv besprochen werden, ist das Mittagsessen das zweite Ritual bei Vio.Me.
Jemand hat Fisch, Erbsen und Salat und mitgenommen. Es wird geteilt, oft auch zusammen gekocht. Makis trinkt dazu ein Bier. Andere mit Wasser verdünnten Schnaps. Um 15 Uhr kommt dann die Abendschicht, später die Nachtschicht, die es vor allem gibt, weil man ständige Angst vor der Räumung hat.
... dann kam die Polizei
"Wir sind in einer schwierigen Situation", sagt Makis. Seit Oktober des Vorjahres hat man nur noch eine Halle zur Verfügung. Vorher hatte man größere Teile der Fabrik, samt zurückgebliebener Maschinen besetzt. Doch dann kam die Polizei. Rund 50 Beamt:innen seien aufgetaucht. Vor Ort war zu dem Zeitpunkt nur ein Mitarbeiter, der damals Krücken hatte, erzählt man am Mittagstisch.
Die ehemalige Fabrik wurde verkauft, die neuen Besitzer zogen eine fast drei Meter hohe Blechwand durch das Firmenareal.
Um zu wissen, was auf der anderen Seite passiert, haben die Besetzer:innen eine Leiter aufgestellt. Teilweise sei drüben schon mit dem Abriss begonnen worden.
Was soll statt der Fabrik hinkommen? "Wir wissen es nicht. Vielleicht eine Mall, ein Hotel, Büros – irgendetwas, das dem Besitzer noch mehr Geld bringt, als er eh schon hat", vermutet man. Dabei haben Makis und seine Kolleg:innen hier eine Bastion aufgebaut, die zumindest ihnen ein anderes Wirtschaften ermöglicht. Aber wie lange noch?
Laut Makis Einschätzung gibt es in Griechenland ein Gesetz, wonach einem Land gehöre, wenn man es 10 Jahre besetzt. Ob das die Gerichte auch so sehen, steht noch nicht fest. Die Verfahren laufen noch.
Davon erwartet sich Makis allerdings nicht allzu viel. Er glaubt, dass der Staat gar kein Interesse daran hat, die Situation zu lösen. Von Syriza wurde einst eine Legalisierung der Besetzung versprochen. Daraus wurde nichts. Mittlerweile wird Griechenland wieder konservativ regiert.
Dennoch ist Vio.Me als Unternehmen eingetragen, man zahlt Steuern und die Arbeiter:innen sind versichert.
Ohne Krise keine Besetzung
Laut dem 65-Jährigen sei die ursprüngliche Idee hinter Vio.Me keine politische gewesen. Man wollte nur die Arbeitsplätze behalten.
Doch den Protesten gegen die plötzliche Schließung der Fabrik schlossen sich diverse linke Gruppierungen an und so kam die Idee der Selbstverwaltung - wie es sie in Argentinien häufiger gibt - auf. Es ist der Versuch, ein anderes Wirtschaftssystem zu etablieren als jenes, das Griechenland Krise und Sparpolitik bescherte.
Ohne die Krise wäre das alles nicht passiert
"Ohne die Krise wäre das alles nicht passiert", sagt Makis. Die Besetzung sei die Antwort darauf gewesen, wenn einem "niemand, nicht der Staat, nicht die EU" hilft.
Jetzt möge er den Gedanken, ein Produkt herzustellen, das den Wert der Zeit und Arbeit hat, den Vio.Me reinsteckt. Dass das Geld in die Taschen der Arbeiter:innen geht und nicht in die des Managements. Pro gearbeiteter Stunde verdienen hier alle gleich viel. Oder wenig.
"1, 2, 1.000 Vio.Me"
Bei der Gründung sei das Ziel gewesen, das Dreifache des durchschnittlichen griechischen Lohns zu zahlen. Zwar seien die Löhne bei Vio.Me seither "um 120 Prozent" gestiegen, wie Makis sagt. Dennoch liegt das Gehalt noch beim griechischen Mindestlohn – also bei rund 800 Euro pro Monat.
In die Wellblech-Halle, in der man im Sommer ohne Klimaanlage schwitzt und im Winter ohne Heizung Thermokleidung benötigt, in die die Arbeiter:innen selbst ein WC bauen mussten, komme Makis dennoch immer noch gerne. Er möge es, keinen Boss zu haben, sagt er. An die Pension denkt der 65-jährige noch gar nicht, denn auch dann würde er noch arbeiten, weil es ihm eine solche Freude bereitet.
"1, 2, 1.000 Vio.Me" steht auf einem der Plakate, die in der Halle als Erinnerung an die großen Proteste, hängen. Ein weiteres Ziel, das nicht erreicht wurde. Vio.Me blieb bis jetzt Griechenlands einzige besetzte Fabrik.
Nichts geändert seit der Krise?
Dabei wäre das laut Makis ein Ausweg aus der Krise, seit der sich laut ihm "nichts" geändert habe. Es sei sogar noch schlimmer geworden – die Preise steigen, die Löhne nicht. Brot oder gar Urlaub – laut Makis nicht leistbar. Er glaubt nicht an das kapitalistische System. Die Arbeiter:innen müssen übernehmen, ist er überzeugt.
Tatsächlich befindet sich Griechenland nach wie vor in einer schwierigen Situation. Das bestätigt auch Grigoris Zarotiadis, Professor an der Fakultät für Sozial- Wirtschaftswissenschaften an der Aristoteles-Universität in Thessaloniki. In einem schicken Café an der Ufer-Promenade im Zentrum der Stadt spricht er offen, auch über sein eigenes Einkommen. 2.200 Euro netto würde er als Vollzeitprofessor, 24 Jahre im Dienst, bekommen.
Kluft zwischen Arm und Reich
In Griechenland wurde gerade die Sechs-Tage-Woche beschlossen. So soll laut Regierung der angebliche Fachkräftemangel bekämpft werden. Zarotiadis sieht es anders: Er verweist auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit und auf die geringe Bezahlung in vielen Jobs - vor allem im öffentlichen Sektor. Rund 850 Euro kriege ein Lehrer, der neu anfängt. Eine Ärztin würde 1.000 Euro bekommen – und müsse dafür oft auch noch in eine fremde Stadt ziehen.
In absoluten Zahlen seien die Löhne noch auf demselben Level wie 2009 – also vor der Krise, rechnet der Professor vor. Durch die Inflation seien sie real aber gesunken. Die Kluft zwischen Arm und Reich, aber auch zwischen verschiedenen Regionen Griechenlands sei größer geworden.
Vor der Krise seien die Griechen "EU-Lovers" gewesen, heute sei das nicht mehr der Fall. "Die EU war politisch nicht vorbereitet", sagt Zarotiadis. Auch deshalb sei es überhaupt so weit gekommen. "Die finanzielle Solidarität war nicht da." Heute gebe es etwa den Wiederaufbaufonds.
Griechenland sei in der Krise "Sündenbock" gewesen, aber auch nicht ganz unschuldig an seiner Situation, fasst er zusammen.
"Es wird Proteste geben"
Bis heute sei man "nicht zu 100 Prozent autonom und selbstregiert", sagt er und deutet aufs Meer, wo ein Piratenschiff als Touristenattraktion gerade die Promenade Thessalonikis ansteuert: "Dort, auf der Höhe des Schiffes jetzt, ist das Messegelände", erklärt er. Dieses stehe, wie so vieles, was früher in öffentlichem Besitz war, kurz vor dem Verkauf an private Investoren. Damit wird eine der letzten freien Flächen des Stadtzentrums durch spekulative Immobiliengeschäfte verschwinden, sagt er. "Es wird Proteste geben", ist er sicher.
Er nennt weitere Beispiele: Die Griechen machen die Sparmaßnahmen und Privatisierungen auch für den Zugunfall von Tembi im Februar 2023 mit 57 Toten verantwortlich. Für eine 500-Kilometer-Autobahn-Fahrt von Thessaloniki nach Athen und zurück zahle man 80 Euro, so der Professor. Auch die Straße wird mittlerweile privat betrieben.
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Privatisierungen und Insolvenzen sorgten für Oligopole in vielen Bereichen. Das merkt auch Zarotiadis selbst. Neben seiner Tätigkeit als Professor ist er bei an einer Büromöbel-Firma beteiligt. Vor der Krise habe es fünf solcher Unternehmen in Griechenland gegeben, jetzt gebe es nur noch seine. Die Möbel exportiere er vor allem, denn in Griechenland kauft sie kaum jemand.
Die besetzte Fabrik Vio.Me ist da für den Professor ein "hoffnungsvolles soziales Experiment", um diesen Missständen der griechischen Wirtschaft zu entkommen. Es zeige, wie kleine und mittlere Produktionsstrukturen durch die Arbeitenden selbst wieder aufgebaut werden können.
Etwas enttäuscht zeigt sich hingegen Vangelis Vragoteris, ein ehemaliger Vio.Me-Beschäftigter, der nun zu Kooperativen und alternativen Wirtschaftsformen forscht. Er arbeitete von 2015 bis 2019 in der besetzten Fabrik, flog für sie auch nach Argentinien, um von den selbstverwalteten Kooperativen dort zu lernen.
"Selbstverwaltung ist schwierig"
Er will kein schlechtes Wort über Vio.Me verlieren. Doch für ihn sei das Gehalt dann doch zu gering gewesen, sagt er. "Selbstverwaltung ist schwierig", sagt er. Es sei anstrengend und er sei müde geworden.
Die griechische Gesellschaft, die Arbeiterklasse ist noch nicht bereit
Dass Vio.Me die einzige besetzte Fabrik Griechenlands blieb, kommentiert Vragoteris ebenfalls enttäuscht: "Die griechische Gesellschaft, die Arbeiterklasse ist noch nicht bereit". Dabei hätten tausende Fabriken geschlossen und noch mehr Menschen ihre Jobs verloren.
Dennoch wäre er "traurig", würde es Vio.Me nicht mehr geben. Würde die besetzte Fabrik geräumt werden, würde er protestieren. Es würde immer noch Massen auf die Straße ziehen, ist er sich sicher. So würden sich ja auch die Arbeitenden der Fabrik immer noch auch Protesten anderer Organisationen und Gewerkschaften anschließen.
In der Fabrik im Osten Thessalonikis ist unterdessen der Abenddienst am Mittagstisch eingetroffen. Vor Dienstbeginn wird noch kurz geplaudert und geraucht. Ein der älteren Arbeiter wird von einer Frau mit dem Moped abgeholt, Makis und die anderen fahren gemeinsam mit dem Van zurück in die Stadt.
Eleni muss ihre Oma nicht mehr sterben lassen
Eleni sitzt nun – mit den aufgepäppelten Hunden Frodo und Frida - allein in der großen Halle zwischen all den Palletten, Fässern mit Chemikalien und alten Maschinen. Eleni und Mark, ein Chemiker aus Texas, sind die Neuzugänge und jüngsten Arbeiter:innen der Fabrik.
In Kontakt mit den Besetzern sei sie schon früh gekommen, erzählt Eleni. Während der Krise wurde in der Halle eine ärztliche Ordination für Menschen ohne Versicherung organisiert, später gab es eine Geflüchtetenhilfe.
Sie müsse sich hier nicht verstellen, sagt Eleni. Sie habe hier schon gelacht und geweint. Sie müsse nicht sagen, dass ihre Oma gestorben sei, wenn sie einmal lieber einen Ausflug mache, als zur Arbeit zu gehen.
In einem kleinen, mit Akten vollgeräumten Büro macht sie die Adminstration bei Vio.Me. Ihr Lieblingsraum ist aber der, wo die Seife trocknet. Es riecht nach Lavendel und Zitronen. Keinen Chef zu haben, Entscheidungen selbst zu treffen und Verantwortung zu nehmen, bringe sie voran und mache sie produktiver, sagt sie.
Sie merke, dass die älteren Arbeiter müde seien. Um mehr Junge zu gewinnen, müsste man wohl aber mehr zahlen. "Das wird noch dauern", meint Eleni, die die Halle ihr zweites Zuhause nennt.
Sie ist sich aber sicher: Das Projekt Vio.Me ist und bleibt einer der Wege, um Widerstand gegen die Krise und die griechischen Probleme zu leisten.
Transparenzhinweis: Die Reise nach Griechenland im Rahmen von "Eurotours" wurde vom Bundeskanzleramt mitfinanziert.
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Zusammenfassung
- Finanzkrise und Sparpolitik stürzten tausende Griechen in die Arbeitslosigkeit. Als zahlreiche Fabriken schlossen, wollten das Arbeiter:innen aus Thessaloniki aber nicht hinnehmen.
- Sie besetzen ihren Arbeitsplatz einfach - und produzieren dort noch heute. Selbstverwaltet und ohne Chefs.
- PULS 24 hat sich vor Ort angesehen, wie das funktioniert und welche Spuren die Krise in Griechenland hinterlassen hat.
- Transparenzhinweis: Die Reise nach Greichenland im Rahmen von "Eurotours" wurde vom Bundeskanzleramt mitfinanziert.