NHM-Forscher fanden letztes bekanntes Krokodil Mitteleuropas
In der Sammlung der Geologisch-Paläontologischen Abteilung des NHM lagern mehr als 5,6 Millionen Objekte, die ein umfassendes Archiv der Natur darstellen. Bei Revisionen von historischem Material finden sich immer wieder Objekte, die früher falsch zugeordnet wurden oder deren Bedeutung erst durch den wissenschaftlichen Fortschritt neu bewertet werden kann.
Das war nun auch der Fall bei der neuerlichen Untersuchung von Funden aus den ehemaligen Tongruben von Hernals im Bereich des heutigen Postsportvereins Wien, über die die Forscherinnen und Forscher im Fachjournal "Historical Biology" berichten. Solche Ziegelgruben waren bis ins frühe 20. Jahrhundert im Wiener Stadtbild allgegenwärtig.
Die Wirbeltier-Paläontologin Ursula Göhlich vom NHM konzentrierte sich in ihrer Untersuchung dieser historischen Funde auf Panzerteile und Knochen von Weichschildkröten, die bisher noch wenig bearbeitet worden waren. Dabei bemerkte sie, dass ein Objekt falsch zugeordnet war: Sein rechteckiger Umriss und die durch tiefe Gruben strukturierte Oberfläche passten nicht zu Panzerplatten von Schildkröten.
Vergleich mit steirischen Krokodilen brachte Gewissheit
"Da war klar, dass es sich um eine Hautplatte eines Alligators handeln muss", so Göhlich in einer Aussendung des Museums am Dienstag. Martin Gross vom Universalmuseum Joanneum Graz verglich das Wiener Fossil mit der umfangreichen Sammlung fossiler Krokodile der Steiermark und bestätigte die Vermutung. "Die steirischen Alligatoren sind fast vier Mio. Jahre älter als das Wiener Reptil und gehörten zu einer anderen Art. Die Hautschuppen zeigen aber, dass beide eng miteinander verwandt sind", so Gross.
Das überraschte die Forscherinnen und Forscher, denn die Blütezeit der Alligatoren endete in Mitteleuropa vor 13,6 Millionen Jahren. Als Ursache vermutete man eine globale Abkühlung, die zum Beispiel dafür sorgte, dass die Korallenriffe rund um das Leithagebirge abstarben. Daher ging man bisher davon aus, dass die letzten Alligatoren etwa eine Million Jahre früher aus der Region verschwanden, als das Hernalser Fossil belegt.
Neue Hypothese über das Verschwinden
Das Fossil stammt von einem kleinen Alligator der Gattung Diplocynodon. Diese rund zwei Meter langen Tiere lebten in Sümpfen und Flusslandschaften im Hinterland des Meeres. Nur sehr selten gelangten Kadaver dieser Süßwassertiere durch Flüsse bis ins Meer, wo ihre Überreste im Sediment erhalten geblieben sind. Der Hernalser Alligator ist den Museumsangaben zufolge jedenfalls "das letzte bekannte Krokodil in Mitteleuropa".
Die Arbeitsgruppe um Mathias Harzhauser, Leiter der Geologisch-Paläontologischen Abteilung des NHM, hat nun für das Verschwinden von Diplocynodon eine neue Hypothese: Weil etwa der moderne Mississippi-Alligator sogar in gefrorenen Tümpeln überleben kann, dürften die Tiere nicht der Abkühlung zum Opfer gefallen sein. Vielmehr könnte eine Phase ungewöhnlicher Trockenheit vor etwa zwölf Millionen Jahren die Lebensräume der Alligatoren bedroht haben.
(S E R V I C E - Internet: https://doi.org/10.1080/08912963.2025.2466048)
Zusammenfassung
- Forscher des Naturhistorischen Museums Wien entdeckten, dass Alligatoren in Mitteleuropa länger lebten als bisher angenommen, als sie ein Fossil aus dem 19. Jahrhundert neu bewerteten.
- Ein fälschlich als Schildkrötenpanzer identifiziertes Objekt stellte sich als Alligatorhautplatte heraus, was die Annahme widerlegt, dass diese Tiere vor 13,6 Millionen Jahren aus der Region verschwanden.
- Eine neue Hypothese vermutet eine Trockenperiode vor zwölf Millionen Jahren als Ursache für das Verschwinden der Alligatoren, nicht die globale Abkühlung.