Neuer Prozess für womöglich zu Unrecht Verurteilten in Wien
Die Staatsanwältin sah das anders. "Die Beweislage ist nach wie vor erdrückend", sagte sie zu Beginn der Verhandlung. Der Angeklagte habe "die Tatausführung gefördert" und zwar im Wissen, "dass das Opfer sterben soll". Der 48-Jährige bekannte sich im Anschluss zu diesem Vorwurf "nicht schuldig" und machte in weiterer Folge von seinem Schweigerecht Gebrauch. Er war zu keinen weiteren Angaben bereit.
Ausgangspunkt der ganzen Sache ist ein Mordanschlag auf einen Mann, der am frühen Morgen des 20. November 2018 in der Hippgasse in Ottakring mit einem länglichen, rohrförmigen Werkzeug niedergeschlagen und lebensgefährlich verletzt wurde. Er erlitt unter anderem ein Schädel-Hirn-Trauma und einen Schädelbruch. Der 48-Jährige geriet in weiterer Folge in Verdacht, dem unmittelbaren Täter - dieser verbüßt wegen versuchten Mordes eine lebenslange Freiheitsstrafe - ein Honorar von 10.000 Euro bezahlt zu haben.
Nun gibt es aber gravierende Indizien, denen zufolge der 48-jährige Mann womöglich vom Drahtzieher des Mordkomplotts bewusst falsch belastet wurde. Zwei Zeugen, die mit dem wegen Anstiftung zum versuchten Mord zu lebenslanger Haft verurteilten Drahtzieher Kontakt im Gefängnis hatten, behaupten, dieser hätte ihnen gestanden, er habe den 48-Jahren aus Rache in die Sache mithineingezogen. Ob das tatsächlich so war, muss jetzt ein Schwurgericht unter Vorsitz von Richter Andreas Böhm prüfen. Die Staatsanwältin bezeichnete die zwei neuen Zeugen als "mehr als fragwürdig". Es handle sich um "Häftlinge".
Wie die Ermittlungen nach dem Anschlag vom November 2018 ergaben, hatte der ehemalige Schwiegervater des niedergeschlagenen und lebensgefährlich verletzten Mannes den Anschlag bestellt - aus gekränkter Ehre, weil dieser ein außereheliches Verhältnis mit seiner Schwägerin eingegangen war und mit ihr auch noch ein Kind gezeugt hatte. Das passte dem türkischstämmigen Immobilienunternehmer, der die Ehe seiner Tochter arrangiert hatte, überhaupt nicht, er wollte den Ex-Schwiegersohn daher beseitigen lassen.
Zu diesem Zweck suchte er nach einem Killer, den er nach längerer Suche gegen ein entsprechendes Entgelt auch fand. Nachdem der Mordanschlag gescheitert war, konnten die dafür Verantwortlichen nach langwierigen Ermittlungen ausgeforscht und festgenommen werden. Der Ex-Schwiegervater des Opfers wurde im Oktober 2019 vom Wiener Landesgericht wegen Anstiftung zum Mord, der unmittelbare Täter im vergangenen Februar wegen versuchten Mordes verurteilt.
Mitangeklagt und verurteilt wurde im Vorjahr auch der 48-Jährige, wobei dafür ausschließlich die belastendenden Angaben des Drahtziehers ausschlaggebend waren. Dieser hatte behauptet, der 48-Jährige habe den Tatplan gekannt, die Geldforderung des gedungenen Killers in Höhe von 10.000 Euro entgegengenommen, die Ausstellung einer entsprechenden Rechnung in Aussicht gestellt und diese auch bezahlt. Der 48-Jährige stritt das in seiner ersten Verhandlung vehement in Abrede, die Geschworenen schenkten seinen Unschuldsbeteuerungen damals jedoch mehrheitlich keinen Glauben. Der Mann wurde als Beteiligungstäter schuldig erkannt und sollte dafür elf Jahre im Gefängnis verbüßen.
Dann stellte sich allerdings heraus, dass der Drahtzieher des Mordkomplotts den 48-Jährigen womöglich fälschlicherweise angeschwärzt hatte. Ein Mithäftling des 58-jährigen ehemaligen Immobilienunternehmers wandte sich nämlich am 1. September 2022 in einem handschriftlichen Brief an Anwalt Marcus Januschke, einen der beiden Verteidiger des 48-Jährigen. Darin führte der Absender aus, der Drahtzieher habe ihm in der Justizanstalt Josefstadt und später während einer Busfahrt zur Justizanstalt Stein erzählt, er habe falsch gegen den 48-Jährigen ausgesagt und diesen in die Mordsache "hineingezogen", um sich zu rächen. Motiv: Der 48-Jährige soll in der Türkei im Besitz des 58-Jährigen befindliche Grundstücke verkauft haben und diesen dabei betrogen haben. "Er ist besessen von dem Rachegedanken. Mit seinen Lügen hat er das Hohe Gericht dazu gebracht, einen unschuldigen Menschen zu verurteilen", hielt der Häftling in dem Brief fest. Der Schreiber nannte darin auch einen weiteren Häftling, der ebenfalls gehört habe, dass der 58-Jährige zu Unrecht jemanden belaste.
Diese beiden Männer bekräftigten nun in der zweiten Verhandlung gegen den 48-Jährigen unter Wahrheitspflicht vor den neuen Geschworenen ihre bisherigen Angaben. Der 58-Jährige habe sich rächen wollen, weil er davon ausgegangen sei, dass ihm der 48-Jährige Besitz und Vermögen weggenommen habe, schilderte zunächst der Ältere der beiden. Der Jüngere wurde dann ganz präzise. Er habe im Gefängnis den 58-Jährigen darauf angesprochen, ob die in der Justizanstalt kursierenden Gerüchte stimmen würden, wonach er den 48-Jährigen zu Unrecht belastet habe. Der 58-Jährige habe das bestätigt, gab der Zeuge zu Protokoll: "Er hat gesagt, aus Rache, weil er ein Grundstück verkauft und das Geld Meier gemacht hat." Er habe den 58-Jährigen daraufhin aufgefordert, die falsche Aussage zurückzunehmen. Der 58-Jährige habe das abgelehnt: "Er ist so stur, er wollte nicht abbiegen." Deshalb habe er dem Anwalt des 48-Jährigen einen Brief geschickt: "Ich wollte nicht, dass jemand Unschuldiger sitzt."
Das Wiener OLG, das sich mit dem Wiederaufnahmeantrag eingehend befasst hatte, hatte festgestellt, dass der Ex-Schwiegervater des fast getöteten Mannes den 48-Jährigen bis zum August 2021 niemals mit dieser Tat in Verbindung gebracht hatte. Mit den beiden neuen Zeugen - den früheren Mithäftlingen des 58-Jährigen - sei "nicht auszuschließen", dass sich damit die Beweislage gegen den 48-Jährigen erschüttern lasse, wie es im Beschluss heißt, mit dem die staatsanwaltschaftliche Beschwerde gegen die von einem Drei-Richter-Senat genehmigte Wiederaufnahme abgewiesen wurde: "Den Aussagen der beiden Zeugen, der einzige Belastungszeuge habe ihnen gegenüber eine falsche Belastung (...) zugegeben, weil er sich betrogen gefühlt habe, ist eine beachtenswürdige Beweisrelevanz nicht abzusprechen, sohin werde diese gemeinsam mit den anderen Beweismitteln vor einem neuen Geschworenengericht zu würdigen sein."
Nach einer Mittagspause wurde der Drahtzieher als Zeuge vernommen. Der 58-Jährige blieb bei seinen bisherigen Angaben und belastete den 48-Jährigen weiterhin: "Die ganzen Überweisungen hat der Angeklagte gemacht. Ich verstehe von den Online-Sachen nichts." Er sei nicht in der Lage, Online-Banking zu betreiben, präzisierte der Zeuge, daher habe der 48-Jährige die Überweisungen übernommen.
Darauf konfrontierte ihn Verteidiger Michael Dohr mit dem widersprechenden ursprünglichen Angaben. In einer früheren Aussage hatte der 58-Jährige die Überweisung von Geld an den als unmittelbaren Täter verurteilten Mann zugestanden. Darauf wurde es emotional, der 58-Jährige wies diese Vorhalte zurück und ging in scharfen Worten gegen den Angeklagten vor: "Der Plan von ihm ist, mir mein Vermögen wegzunehmen."
Daran anschließend trat der Mann in den Zeugenstand, der im Zusammenhang mit dem Mordkomplott als unmittelbarer Täter in einer Justizanstalt eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt. Der Mann überraschte mit der deutlichen Aussage, der Angeklagte habe "mit der Sache nichts zu tun". Er habe das in seiner eigenen Verhandlung schon anbringen wollen, "aber ich wurde unterbrochen". Auch er selber sei "unschuldig" und strebe nun ebenfalls eine Wiederaufnahme seines Verfahrens an: "Ich ersuche daher um eine Protokollabschrift der heutigen Verhandlung." Er kenne den wahren Täter, sagte der Mann, wobei er Unterlagen in die Höhe hielt. Es handle sich um einen inzwischen aus einer Haftstrafe entlassenen Bosnier.
Nach dieser Entwicklung wurde einen Beweisantrag der Staatsanwaltschaft auf Ladung eines weiteren Zeugen stattgegeben. Die Verhandlung wurde daher auf den 9. Jänner vertagt.
Zusammenfassung
- Ein 48-Jähriger ist im Februar 2022 in Wien womöglich zu Unrecht wegen Beteiligung an einem Mordanschlag zu einer elfjährigen Haftstrafe verurteilt worden.
- Eine Wiederaufnahme des Verfahrens wurde auf Basis neuer Beweismittel genehmigt, der Mann im Mai 2022 enthaftet.
- Am Montag ist am Wiener Landesgericht erneut gegen den 48-Jährigen verhandelt worden.
- Die Staatsanwältin bezeichnete die zwei neuen Zeugen als "mehr als fragwürdig".