Gewalt- und Missbrauchsfälle in deutschen SOS-Kinderdörfern
"Diese 160 Meldungen stammen sowohl von aktuellen als auch ehemaligen Betreuten", sagte der Vorsitzende der vom Verein eingerichteten, unabhängigen Kommission zur Anerkennung und Aufarbeitung erlittenen Unrechts, Klaus Schäfer, in München. "Die darin gemeldeten Vorfälle reichen bis in die 1960er-Jahre zurück."
In dieser Zeit wuchsen nach Angaben Schäfers mehr als 10.000 Kinder in Deutschland in SOS-Kinderdorffamilien auf, die Hinweise bezogen sich auf Einrichtungen in ganz Deutschland. Rund die Hälfte der Meldungen machten Fälle aus, in denen Kinder und Jugendliche sich gegenseitig Gewalt angetan hätten, sagte Schäfer.
Es gebe aber auch Vorwürfe von Gewalt und sexuellem Missbrauch gegen Betreuer. "Dabei geht es vor allem um Fälle der gewaltgeprägten, sogenannten schwarzen Pädagogik, die es in den 1960er- und 70er-Jahren in vielen Erziehungseinrichtungen gab."
Bereits 2021 Vorwürfe von "Grenzüberschreitungen"
Anfang Oktober 2021 hatte eine Studie Schlagzeilen gemacht, die "Grenzüberschreitungen" zweier Betreuerinnen in einem Kinderdorf in Bayern nahelegen. Aus der Untersuchung des renommierten Missbrauchsexperten Heiner Keupp geht hervor, dass die beiden ehemaligen Mitarbeiterinnen ihnen anvertrauten Kindern "Leid" zugefügt haben.
Bei den konkreten Vorwürfen soll es beispielsweise um gemeinsames Duschen gehen oder Hygienemaßnahmen, die die Schamgrenzen der Kinder verletzten. Außerdem soll ein fünf Jahre altes Mädchen allein in einen dunklen Keller gesperrt worden sein, ein Bub habe in Hausschuhen schlafen müssen, weil seine Dorfmutter sie ihm mit Klebeband an den Füßen befestigt hatte.
Die Staatsanwaltschaft Augsburg nahm Ermittlungen auf. Fünf Verfahren sind dort derzeit bekannt, wie ein Sprecher sagt; zwei davon wurden eingestellt, drei laufen noch. "Das Ziel der - noch offenen - Ermittlungen ist weiterhin die Aufklärung, ob es zu strafrechtlich relevanten Vorgängen gekommen ist."
Nach der Veröffentlichung dieser Studie wurde die Kommission eingerichtet, der Schäfer vorsteht und die sich vorgenommen hat, die Fälle aufzuarbeiten. Darum schaltete sie Anzeigen in mehreren Zeitungen, in denen Betroffene aufgerufen werden, sich zu melden. "Mit diesem Aufruf bitten wir betroffene Personen, die sich bisher nicht gemeldet haben, sich zu melden", heißt es darin.
"Wir wissen, dass es nicht leicht ist, über erfahrenes Unrecht zu berichten, auch wenn die Taten unter Umständen schon lange zurückliegen." Für diesen Sommer wird eine erste Einschätzung der Kommission erwartet, ein endgültiger Bericht ist für Sommer 2024 geplant.
Missbrauch und Gewalt in SOS-Kinderdörfern weltweit
Missbrauch und Gewalt ist in den SOS Kinderdörfern immer wieder ein Thema, bei dem sich die Organisation um Aufklärung bemüht. Im Mai 2021 gab SOS Kinderdorf Österreich bekannt, dass Kinder und Jugendliche in 20 Ländern Afrikas und Asiens Opfer von Gewalt, Misshandlung und sexuellem Missbrauch geworden sind.
Wie das Management von SOS-Kinderdörfer weltweit mitteilte, gab es in 50 von insgesamt 3.000 Einrichtungen der nationalen SOS-Kinderdorf-Vereine Handlungsbedarf. Das kam laut Eigenangaben bei externen Überprüfungen heraus. Zuvor war es in 22 Fällen zu Untersuchungen in den Bereichen sexueller Missbrauch, Vorteilnahme und Korruption gekommen.
Österreicher soll Kinder in SOS-Kinderdorf missbraucht haben
Im vergangenen November gab SOS Kinderdorf bekannt, dass ein österreichischer Großspender im Verdacht stehe, bei seinen Besuchen in einem südostasiatischen Land die unter Betreuung stehenden Kinder sexuell missbraucht zu haben. Der Mann, der inzwischen verstorben ist, reiste in den Jahren 2010 bis 2014 dort hin, weil er den Aufbau eines Dorfes mitfinanzierte - und zwar im hohen sechsstelligen Eurobereich. 2021 wurde er bei der Staatsanwaltschaft St. Pölten angezeigt.
Acht Minderjährige sind betroffen, die Buben sind mittlerweile junge Erwachsene, sagte Elisabeth Hauser, Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf Österreich. Die Übergriffe sind bei den Besuchen aufgefallen, der Mann blieb stets einige Tage dort. Daraufhin hat das betroffene Land, das SOS-Kinderdorf aus Kinderschutzgründen nicht nennen wollte, bekannt gegeben, dass ein Besuch des Spenders nicht mehr erwünscht sei.
Zusammenfassung
- Beim SOS-Kinderdorfverein in Deutschland sind in den vergangenen Jahren 160 Hinweise auf Gewalt und Missbrauch eingegangen.
- "Die darin gemeldeten Vorfälle reichen bis in die 1960er-Jahre zurück."
- Es gebe aber auch Vorwürfe von Gewalt und sexuellem Missbrauch gegen Betreuer.
- Zuvor war es in 22 Fällen zu Untersuchungen in den Bereichen sexueller Missbrauch, Vorteilnahme und Korruption gekommen.