Aus der Geschichte lernen
Am 2. Dezember 2010 entschied die FIFA in Zürich, die Fußball-WM der Männer 2018 an Russland und für 2022 an Katar zu vergeben. Russland galt damals noch als respektables Mitglied der Staatengemeinschaft, die Vergabe an Katar allerdings – zunächst vor allem, was den Zeitraum der Austragung und das (energie-)aufwändige Erfordernis einer Kühlmöglichkeit der Stadien anbelangt – wurde schon damals kritisiert.
Gerüchte über eine erkaufte Abstimmung machten bald die Runde, als erste Beweise dafür auftauchten entschied man allerdings, dass der Bau der Stadien wohl schon zu weit fortgeschritten war, um Katar die WM noch zu entziehen. Kritische Stimmen wurden darüber hinaus mit der Argumentation der wirtschaftlichen Vorteile und Chancen für westliche Unternehmen beschwichtigt. Und dies verfing, es wurde zunehmend ruhig um die WM-Vorbereitungen. Auch als Berichte über unmenschliche Arbeitsbedingungen vor Ort und daraus resultierende Todesopfer bekannt wurden, führte das nicht zu massiven politischen oder medialen Protesten. "Geht es der Wirtschaft gut, geht es den Menschen gut" lautete – nicht nur in diesem Kontext - das (banale) Mantra. Die Frage ist nur, ob das die pakistanischen Bauarbeiter in Katar auch so sahen.
Die aktuelle Empörung über die WM in Katar wirkt jedenfalls heuchlerisch. Alle konkreten und potenziellen Probleme waren bereits bei der Vergabe bekannt. Die Politik sollte ihre Lehren daraus ziehen und überlegen, ob es sich wirklich lohnt, einen kurzfristigen (wirtschafts-)politischen Erfolg einem längerfristigen Imageverlust vorzuziehen, die Medien, ob sie die Themen immer richtig setzen. Und ob sie der teilweise manipulativen Themensetzung der Politik in deren Interesse stets zu folgen bereit sein oder sich verstärkt der Behandlung wirklich brennender Probleme widmen sollten.
Die "grünen Männer" auf der Krim
Und dann ist da der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland: Seit den 2010er Jahren war die Position der Putin-Regierung zum Westen und zu den Nachbarstaaten zunehmend klar, denen man keine freie und selbstbestimmte Entwicklung zuzustehen bereit war. Als 2014 nach den aus dieser russischen Sicht inakzeptablen prowestlichen Demokratiebewegung eine Bedrohung für den russischen Einfluss in der Ukraine resultierte, okkupierten die "grünen Männer", von den regulären russischen Streitkräften unterstützte prorussische Milizionäre, die Krim und begannen in der Folge einen verlustreichen Kampf im Donbass. Die Reaktion des Westens blieb verhalten: Zu unwichtig erschien offenbar das Schicksal der Ukraine im Verhältnis zu den wirtschaftlichen Vorteilen des Zugangs zu den billigen russischen Energiequellen.
Anstatt Russland klare Grenzen aufzuzeigen, wurde beschwichtigt, immer auch von der Sorge bestimmt, dass eine entschiedenere Haltung die "Normalität" und wirtschaftliche Prosperität stören könnte. Ganz abgesehen von der prorussischen Agitation politischer Gruppierungen, die für autokratische Systeme ohnehin Sympathien hegen und sich davon Vorteile erhoffen.
Beschwichtigung ad absurdum geführt
Nun, gerade diese Haltung hat letztlich Russland offenbar ermutigt, am 24. Februar einen offenen Krieg gegen die Ukraine zu beginnen, der alle Beschwichtigungsstrategien ad absurdum geführt hat. Umso schwerer tut sich der Westen jetzt mit einer angemessenen Reaktion. Vor allem das Zögern einzelner Mitgliedsstaaten der EU in der Unterstützung der Ukraine zeigt, dass die Bedeutung dieses Konfliktes noch nicht überall vollständig erkannt worden zu sein scheint.
Die von Putin beschworene "militärische Spezialoperation" entwickelt sich in den letzten Wochen offenbar auf Grund der Misserfolge auf dem Schlachtfeld jedenfalls zunehmend zum Versuch einer Zerstörung der für die Versorgung der Zivilbevölkerung kritischen Infrastruktur – und dass es sich bei dieser Bevölkerung um lauter "Nazis" handeln würde, glauben hoffentlich nicht einmal mehr die üblichen für russische Propaganda anfälligen westlichen Kreise.
Beschwichtigung auch im Nahen Osten
Damit sind wir bei einem langfristigen historischen Versäumnis, einer Befriedung des Nahen und Mittleren Ostens. Im Moment entzündet sich das öffentliche Interesse (kurzfristig) am (neuerlichen) militärischen Vorgehen der Türkei gegen die Kurden in Nordsyrien. Präsident Erdogan nützt offenbar erneut die Möglichkeit, innen- und wirtschaftspolitische Schwächen auf die Kurden abzuwälzen. Und der Iran, gebeutelt von den Unruhen in Folge der Tötung einer 22-jährigen Kurdin in Polizeigewahrsam, identifiziert die Kurden als Sündenböcke und greift kurdische Zentren im Nordirak an.
Das Problem existiert seit Jahrzehnten als Teil der nahöstlichen Konfliktlage. Überspitzt ausgedrückt haben die USA und Europa sich allerdings aus der Konfliktbearbeitung in diesem Raum weitgehend zurückgezogen und überlassen die Lage den lokalen Akteuren. Das Schicksal der Kurden ist dann ein entsprechendes Ergebnis.
Der Westen – und damit auch Österreich – könnte aus der Geschichte lernen, dass Ignoranz und Beschwichtigung nicht zur Lösung von Konflikten beitragen. Und dass es politisch unredlich ist, aus den Folgen von Konflikten, wie etwa Flüchtlings- und Asylproblematik, politisches Kleingeld zu schlagen, während man vor den Ursachen die Augen verschließt.
Zusammenfassung
- Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber man kann aus ihr lernen, meint PULS 24 Kolumnist Gerald Karner.
- Vielleicht geben die jüngsten Entwicklungen in völlig unterschiedlichen Bereichen aber ja Anlass zur Hoffnung, dass die Menschheit doch langsam bereit sein könnte, aus der Geschichte zu lernen und Versäumnisse zu vermeiden.