Van der Bellen in Schweden: Einstiges "Volksheim" im Umbruch
Bundespräsident Alexander van der Bellen ist ab heute, Dienstag, bis Donnerstag gemeinsam mit WKÖ-Chef Harald Mahrer und zahlreichen weiteren Wirtschaftsvertretern in Stockholm zu Gast, wo er am Mittwoch unter anderen den konservativ-wirtschaftsliberalen Regierungschef Ulf Kristersson trifft, und am Donnerstag von Monarch Carl XVI, Gustaf im Königlichen Schloss zu einem Mittagessen empfangen wird. Es ist der Besuch in einem skandinavischen Land, das sich laut Kritikern in einem zweifelhaften Umbruch befindet. Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens haben das erkannt und schlagen seit geraumer Zeit Alarm. Einer von ihnen ist der renommierte Ökonom Andreas Cervenka, dessen Buch "Girig Sverige" - Gieriges Schweden, Untertitel: So wurde das Volksheim ein Paradies für die Superreichen - vor zwei Jahren für Aufsehen sorgte. In diesem Buch liefert er Erklärungsansätze, wie es dazu kommen konnte.
Cervenka verortet den Anfang vom Ende des seit den 1930er-Jahren in Schweden verfolgten Mittelwegs zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der staatlich gemanagten Wohlfahrtsstaat, das mythologisierte "Folkhem" (Volksheim), zeitlich in den 1990er-Jahren, als die Regierungen, zuerst unter dem Sozialdemokraten Göran Persson (heute millionenschwerer Bankdirektor) und dann unter der "Bürgerlichen Allianz" von Fredrik Reinfeldt (heute Vorsitzender des Schwedischen Fußballverbandes) das traditionelle schwedische Modell durch ein neoliberales Steuerregime ersetzten.
Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Immobiliensteuer und andere Steuern auf der Kapitalertragsseite wurden sukzessive und laut Cervenka so radikal abgeschafft wie nirgendwo anders in der westlichen Welt. Gleichzeitig aber blieben die hohen Steuersätze auf Arbeitskraft bestehen. Bei der Besteuerung von Arbeit liegt Schweden weltweit immer noch im Spitzenbereich.
Im Zusammenhang mit den zahlreichen Privatisierungen ehemaliger Staatsmonopole, vor allem jenen im Gesundheits- und Pflegesektor, eröffneten sich so für Unternehmer Möglichkeiten, innerhalb kurzer Zeit große Gewinne zu erzielen - immer wieder auch auf Kosten der Qualität von Dienstleistungen, wie etliche einschlägige Skandale der vergangenen Jahre belegen.
Die große Einkommensschere ist nur ein Aspekt der schwedischen Gesellschaft, wie sie sich heute präsentiert. Teilweise damit im Zusammenhang stehen die großen sozialen und Gewaltprobleme in den zuwandererreichen Ballungszentren von Stockholm, Malmö und Göteborg, die regelmäßig Eingang in die internationale Medienberichterstattung finden. Der schwedische Sozialarbeiter und Buchautor Nicolas Lunabba machte diesbezüglich ebenfalls mit einem Buch und im selben Jahr wie Cervenka Furore.
In "Blir du ledsen, när jag dör" (Wirst du traurig sein, wenn ich sterbe?) beschreibt Lunabba anhand seiner persönlichen Arbeit mit jungen Männern mit Migrationshintergrund, welche Hindernisse die Lebensumwelt in Schweden jungen Menschen am Rand der Gesellschaft heute in den Weg legt, oft mit fatalen Folgen für deren Lebensweg. In einem Radiobeitrag für das schwedische "Sommerratio" bezeichnete Lunabba das Schweden von heute als "exklusive Demokratie", in der gleiche Voraussetzungen für die Entwicklung junger Menschen nicht gewährleistet sind.
Der Journalist und deklarierte Sozialdemokrat alter Schule Göran Greider bezeichnete Schweden in derselben Radioserie vergangenen Sommer als "Klassengesellschaft", in der der Glaube an die Zukunft Mangelware sei. Durch das Klima und durch extensive Waldnutzung bedingte Umweltprobleme - Hochwasserkatastrophen und verheerende Brände wie der große Waldbrand von 2014 trügen ebenso zu einer bedrückten Stimmung bei.
Zur Demontage des über Generationen in Europa und in der Welt vorherrschenden Schwedenbildes trug schließlich der im März dieses Jahres mit fast zweijähriger Verspätung vollzogene NATO-Beitritt des Landes bei. Damit beendete Schweden eine über 200-jährige Existenz als neutraler, später "bündnisfreier" Staat. Die öffentliche Debatte über die äußere und innere Sicherheit hat sich, teilweise auch bedingt durch den Regierungswechsel zu einer rechtskonservativen Minderheitsregierung unter Einbindung der teilweise immer noch als rechtsextrem geltenden Schwedendemokraten, in den vergangenen zwei Jahren in Schweden ebenfalls verschärft.
(Von Andreas Stangl/APA)
Zusammenfassung
- Bundespräsident Alexander van der Bellen besucht von Dienstag bis Donnerstag Schweden, um mit Wirtschaftsführern und dem konservativen Regierungschef Ulf Kristersson zusammenzutreffen.
- Andreas Cervenka kritisiert in seinem Buch 'Girig Sverige' die wirtschaftlichen Reformen Schwedens, die das Land zu einem Paradies für Superreiche gemacht haben, beginnend in den 1990er Jahren.
- Trotz hoher Besteuerung der Arbeitskraft und der Privatisierung staatlicher Dienste, insbesondere im Gesundheitssektor, bleibt die soziale Ungleichheit ein drängendes Problem in Schweden.