Einteilung in "Normale" und "Extreme" ist "gefährlich"
"Als Bundeskanzler unseres Landes" erklärte Karl Nehammer (ÖVP) am Freitag, in einem in den sozialen Medien geteilten Video, wer in seinen Augen "nicht normal ist". "Nicht normal" seien laut den Ausführungen die "Klimakleber oder Linksradikalen, genauso wie Rechtsradikale oder Identitäre". "Das Extreme" sei "der Feind des Normalen und vor allem eine Gefahr für die Gesellschaft".
"Normal" hingegen seien laut Nehammer "die Vielen, die Mehrheit". Das seien "die, die sich an die Regeln halten", "die, die in der Früh aufstehen und in die Arbeit gehen", "diejenigen, die sich mit ihrer Familie etwas aufbauen wollen, die sich gern mit Freunden treffen oder sich engagieren".
Klimaschutz nur, wie ihn die ÖVP will
"Normal" seien zwar auch "die, die sich ihrer Verpflichtung gegenüber der der Schöpfung, unserer Natur und dem Klima bewusst sind". Angesichts der Klimakrise sollten die "Normalen" nach dem Credo der ÖVP, aber nicht auf "Verbote", sondern "auf Fortschritt" hoffen. Subtext: Sie sollten sich nicht auf die Straßen kleben und von der Regierung Maßnahmen einfordern.
Damit wirft der Kanzler nicht nur die sogenannten Klimakleber in einen Topf mit rechtsextremen Identitären oder Islamisten, was bei Klimaaktivistin Lena Schilling für Verärgerung sorgt und dem Verfassungsschutz widerspricht. Er leugnet laut Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle (FH Kärnten) mit seinen populistischen Methoden auch die Pluralität in der Gesellschaft. "Demokratie ist nicht die Diktatur der Mehrheit", mahnt sie.
https://twitter.com/LenaSchilling1/status/1682293841628463108
Klimaaktivistin Lena Schilling reagierte auf Twitter prompt auf Nehammers Video. "Nicht normal ist die Klimabewegung zu kriminalisieren, statt Klimaschutzmaßnahmen einfach umzusetzen". "Nicht normal" sei es, "Jugendliche zu kritisieren, die auf die Straße gehen und junge Menschen, die sich für alle einsetzen, für eine gemeinsame Zukunft", wehrt sie sich.
In dieser Sache widerspricht nicht nur die Aktivistin, auch der Verfassungsschutz ist anderer Ansicht: Die Behörde beobachtet die Klimaaktivist:innen zwar, im Bericht 2022 steht allerdings, dass "der Umfang der personellen Überschneidungen zwischen den militanten Umweltgruppierungen und der linksextremen Szene" derzeit "nicht belastbar verifiziert" werden könne.
Verfassungsschutz widerspricht
Selbst Gruppierungen wie die "Letzte Generation" und "Extinction Rebellion", die besonders für Blockaden bekannt sind, sind laut dem Bericht "aktuell nicht als linksextrem" einzustufen. Laut dem Chef des Verfassungsschutzes, Omar Haijawi-Pirchner, seien die Klimaproteste "nicht per se als verfassungsgefährdend einzustufen", die Gefährdung durch Rechtsextremisten und Islamisten sei hingegen "konstant hoch".
Nehammer scheint es aber ohnehin um etwas anderes zu gehen, wie Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle im Gespräch mit PULS 24 analysiert. Es handle sich um "eine populistische Strategie", sagt sie. Die ÖVP wolle im "Kulturkampf" jene erreichen, die die FPÖ schon lange anspricht. Es sei Klientelpolitik, die auf Landwirte, Unternehmer und Autofahrer ausgerichtet sei - ihnen soll das Gefühl gegeben werden: 'Ihr gehört zu uns'.
Es gehe darum, die Bevölkerungsgruppe anzusprechen, die auf "alte Bedeutungsmuster" wie 'das schöne Leben am Land' setzt und die Digitalisierung, Gendern, vegane Ernährung, generell Veränderungen ablehnt. Diese Gruppe habe subjektiv das Gefühl, dass Minderheiten mehr Gehör geschenkt werde als ihnen.
"Demokratie ist keine Diktatur der Mehrheit"
Genau darauf zielt Nehammer ab. So sagt er im Video etwa auch, dass Minderheitenschutz zwar "ganz wichtig", es aber "nicht in Ordnung" sei, "wenn Ausnahmen die Regel werden".
Das ist für Stainer-Hämmerle "gefährlich" und "kein demokratischer Ansatz". Denn "Demokratie ist keine Diktatur der Mehrheit". Minderheitenschutz werde durch Gesetze - auch gegen den Willen der Mehrheit gemacht. Das habe schon Jörg Haider bei den Ortstafeln ignoriert.
"Gefährlich" sei auch, dass durch die Einteilung in "Normale" und "Extreme" die Pluralität in der Gesellschaft verleugnet werde und dadurch die Suche nach Konsens obsolet zu sein scheint. Zwischen "Normalen" und "Extremen" gebe es ja noch viele Abstufungen. Ein Bundeskanzler sollte eigentlich "alle vertreten im Land", so Stainer-Hämmerle.
Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat bei der Eröffnung der Bregenzer Festspiele die spalterische Sprache in der Politik angeprangert. Ohne einzelne Parteien oder Politiker:innen direkt anzusprechen, richtete sich die Kritik des Präsidenten wohl an die ÖVP, aber auch an SPÖ und FPÖ.
"Kindische" Reaktion auf Präsidenten
Angesprochen fühlte sich vor allem die ÖVP, hatte ja davor schon die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leinter die ÖVP zur Vertreterin der "Normaldenkenden" erklärt. Das Video von Freitag ist nun schon Nehammers zweite Reaktion auf Van der Bellens Rede. In einer ersten Reaktion hatte der Kanzler noch darauf bestanden, dass "es ok sein muss, ein Schnitzel zu essen", obwohl Van der Bellen nichts über paniertes Fleisch gesagt hatte.
Laut Stainer-Hämmerle konterkariert der Bundeskanzler damit das Amt des Bundespräsidenten. Statt seiner "kindischen, trotzigen, patzigen" Reaktion hätte er zumindest so tun können, als würde man die Worte des Präsidenten ernst nehmen.
Geht die Strategie der ÖVP auf?
Ob die derzeitige Strategie der ÖVP aufgehen wird? In Umfragen gewinne man von der FPÖ nun vielleicht ein paar Prozentpunkte, sagt die Politologin. Es sei aber "kurzfristig" gedacht, an den "Schaden", den man anrichte, denke man nicht. Nicht einmal an den Schaden an der eigenen Partei - so könnte man etwa die bürgerlichen Intellektuellen endgültig in Richtung NEOS verlieren. Das nehme man aber in Kauf.
Auch Sebastian Kurz habe ähnlich gehandelt, aber doch mit etwas modernerem Antlitz - und vor allem "nicht so ungeschickt".
Zusammenfassung
- Die ÖVP beansprucht weiter die 'Normalität' für sich, für die Autofahrer und die Fleischesser.
- Nehammer nennt Klimakleber und Identitäre in einem Atemzug und vergisst auf Grauzonen.
- Laut Politologin Stainer-Hämmerle konterkariert er damit den Präsidenten und setze auf "keinen demokratischen Ansatz".