Nach dem Erdbeben wächst die Wut auf Erdoğan
Immer mehr Opfer-Angehörige und auch die anfangs noch zurückhaltende Opposition warfen dem Staatschef und den Behörden am Mittwoch völlig unzureichende und zu langsame Unterstützung vor. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu griff Erdogan direkt an. "Wenn hier irgendjemand für diesen Prozess verantwortlich ist, dann ist es Erdogan."
Die Regierungspartei habe es 20 Jahre lang versäumt, das Land auf ein Erdbeben vorzubereiten, betonte Kilicdaroglu. "Wo ist der Staat? Wo waren sie zwei Tage lang?", sagte etwa Sabiha Alinak in der Stadt Malatya. Sie stand in der Nähe eines schneebedeckten eingestürzten Gebäudes, in dem ihre jungen Verwandten feststeckten.
"Systematische Profitpolitik"
Am Montag, als mehrere Erdbeben und Nachbeben das türkisch-syrische Grenzgebiet auf einer Strecke von etwa 450 Kilometern erschütterten, hatte Kilicdaroglu noch erklärt, jetzt sei nicht die Zeit für Kritik, sondern für Einheit. Doch nun schlug er andere Töne an: Er weigere sich, das, was geschehe, unabhängig von der Politik zu betrachten. "Dieser Zusammenbruch ist genau das Ergebnis einer systematischen Profitpolitik." Kilicdaroglu warf der Regierung vor, nicht mit den lokalen Behörden zusammenzuarbeiten. Außerdem habe sie Nichtregierungsorganisationen geschwächt, die hätten helfen können.
Kritik kam auch von Nasuh Mahruki, der nach dem verheerenden Beben von 1999 eine Such- und Rettungsgruppe gegründet hatte. Unter Erdogans Regierung sei die Armee von ihrer Verpflichtung zur Katastrophenbekämpfung entbunden worden. Ein Protokoll, das es der Armee ermöglicht hätte, ohne übergeordnete Anweisungen auf das Beben zu reagieren, sei abgeschafft worden. Darum sei sie jetzt nicht rechtzeitig in Aktion getreten. Die Verantwortung liege nun offenbar bei der Katastrophenschutzbehörde AFAD. "Aber die ist auf ein so kolossales Problem nicht vorbereitet."
Twitter eingeschränkt
Zuvor hatte es heftige Kritik aus der Bevölkerung gegeben, dass sie bei den Bergungsarbeiten von den Behörden im Stich gelassen würden. Reporter der Nachrichtenagentur AFP sahen Menschen, die mit bloßen Händen in den Trümmern nach Verwandten suchten, und sprachen mit wütenden Anwohnern, die vergeblich auf versprochene Zelte, Lebensmittel und Ausrüstung gewartet hatten.
Auch im Internet beklagten sich zahlreiche Menschen in den betroffenen Regionen bitter über das Katastrophenmanagement der türkischen Regierung. Doch zum Zeitpunkt von Erdogans Besuchs in den Erdbebenregionen war der Kurzbotschaftendienst Twitter größtenteils nicht mehr erreichbar. Nutzer in der Türkei und die Netzwerkverkehr-Beobachtungsstelle netblocks.org berichteten, dass der Zugang zu Twitter bei mehreren Internetanbietern eingeschränkt sei.
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Erdogan räumte "Defizite" ein
Erdogan selbst räumte bei seinem ersten Besuch im Katastrophengebiet ein, dass es anfangs Probleme bei der Unterstützung gegeben habe. Jetzt sei aber alles unter Kontrolle. Gleichzeitig wies er Kritik an der Reaktion der Regierung entschieden zurück. Einheit und Solidarität seien jetzt angesagt. "In einer Zeit wie dieser kann ich es nicht ertragen, dass Menschen aus politischen Interessen negative Kampagnen betreiben." Offenbar in Anspielung auf die immer lauter werdende Kritik rief er dazu auf, nur auf Anweisungen der Behörden wie die AFAD zu hören und nicht etwa auf "Provokateure".
Erdogan sagte allerdings auch, es sei nicht möglich, "auf so ein Erdbeben vorbereitet zu sein". "Natürlich gibt es Defizite. Die Zustände sieht man ja ganz klar." Gleichzeitig nahm er Polizisten und Soldaten vor der nach dem Erdbeben aufgekommenen Kritik in Schutz. Diese seien "ehrenhaft". Wer behaupte, es seien keine Soldaten und Polizisten vor Ort, sei "ehrenlos und unehrlich"
Erdogan strebt im Mai seine Wiederwahl an. Umfragen zufolge kann er sich seines Sieges jedoch keinesfalls sicher sein. Ein klarer Trend ist noch nicht auszumachen. Der Erfolg oder Misserfolg des Katastropheneinsatzes könnte am Ende entscheidend sein, ob Erdogan sich weiter an der Macht hält - oder die Opposition die Regierung übernimmt.
Zusammenfassung
- Drei Monate vor den Wahlen in der Türkei wächst die Wut auf Präsident Recep Tayyip Erdoğan wegen seines Erdbeben-Katastrophenmanagements.
- Immer mehr Opfer-Angehörige und auch die anfangs noch zurückhaltende Opposition warfen dem Staatschef und den Behörden am Mittwoch völlig unzureichende und zu langsame Unterstützung vor.
- Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu griff Erdogan direkt an. "Wenn hier irgendjemand für diesen Prozess verantwortlich ist, dann ist es Erdogan."