Karners Weltblick: Ukrainische Geländegewinne und G20-Gipfel
Aber eines nach dem anderen: Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen zeichnet sich ab, dass sich der Einbruch der Streitkräfte Ukraines in die erste russische Verteidigungslinie in Südukraine, markiert durch die Einnahme der Kleinstadt Robotyne, zu einem Durchbruch ausweiten könnte.
Vorstoß zum Asowschen Meer nicht auszuschließen
Damit wären weitere Vorstöße zur logistischen Drehscheibe Tokmak und in weiterer Folge nach Melitopol und Berdjansk, somit zum Asowschen Meer, noch in diesem Herbst nicht mehr völlig auszuschließen. Begleitet wird dieser Ansatz durch unterstützende Angriffe in Ostukraine und am linken Ufer des Dnipro im Oblast Cherson. Bislang konnten russische Entlastungsangriffe im Osten abgewehrt werden, aktuell zeichnet sich eher ab, dass die russische Streitkräfteführung sich gezwungen sieht, Verbände aus dem Osten abzuziehen, um die im Süden entstandenen Lücken zu füllen. Inwieweit das gelingt wird die weitere Entwicklung des Krieges genauso prägen wie die Frage, ob die ukrainischen Streitkräfte in der Lage sein werden, den momentanen Angriffsschwung aufrecht zu erhalten und frische Kräfte einzuführen.
Begleitet werden diese Ansätze von immer heftiger werdenden ukrainischen Angriffen mit weitreichenden Drohnen und Marschflugkörpern auf russische Flugplätze sowie Produktionsstätten von Rüstungsgütern. Offenbar ist es Ukraine gelungen, eine ziemlich umfängliche eigene Produktionskapazität auch für weit reichende Drohnen im eigenen Land aufzubauen. Und dass nicht nur die eigene Rüstungsindustrie, sondern sogar strategisch wichtige Militärflugplätze in Russland offenbar nicht ausreichend durch Fliegerabwehr geschützt sind, flößt der russischen Bevölkerung sicher nicht gerade ein hohes Maß an Vertrauen in die Fähigkeiten der russischen Autoritäten ein.
BRICS-Gipfel: China setzte sich durch
Schauplatzwechsel: In Südafrika ging Ende der Vorwoche der BRICS-Gipfel mit einer Einladung an Ägypten, Argentinien, Äthiopien, Iran, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate zu einer Teilnahme an den Tagungen und Aktivitäten dieser losen Staatengruppe zu Ende.
Damit hat sich China in der Verfolgung seiner Absicht, ein Gegengewicht gegen eine vom "Westen" dominierte, "unipolare Welt" bilden zu wollen, durchgesetzt. Bei näherer Betrachtung dürfte allerdings hinsichtlich einer konkreten Wirkmacht dieser Gruppe kein überbordender Optimismus angebracht sein. War schon bis jetzt klar erkennbar, dass Ausgangspositionen, Ziele und Interessen der bisherigen Mitgliedsstaaten und einst als "Schwellenländer" bezeichneten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sehr heterogen und vereinzelt sogar im (teilweise scharfen) Gegensatz zueinander standen, so wird sich das nach einem Beitritt der sechs neuen Mitglieder noch weiter verstärken.
Das teilweise extrem unterschiedliche wirtschaftliche Gewicht und erhebliche Differenzen bei strategischen Interessen lassen nach Auffassung vieler Beobachter erwarten, dass die Gruppe "noch ineffektiver" zu werden droht. Antiamerikanismus als kleinster gemeinsamer Nenner allein wird wohl doch nicht ausreichen, dieser Problematik Herr zu werden. Inwieweit die politische Heterogenität der Staatengruppe – die NYT meinte, nach der Erweiterung bestünde diese aus sechs Demokratien, zwei Staaten mit autoritären Regimes, zwei autoritär geführten Monarchien und einer Theokratie – eine Anziehungskraft für andere beitrittswillige Nationen darstellen könnte, bleibt abzuwarten.
Und jenes Bild, auf dem die Protagonisten Hand in Hand einen Schritt vorwärts setzten, und das zum Abschluss des diesjährigen Gipfels wohl Aufbruch vermitteln sollte, erreichte potenziell das Gegenteil: Bei allem Respekt gegenüber Lula da Silva, Xi Jinping, Cyril Ramaphosa, Narendra Modi und, ja, sogar gegenüber Sergei Lawrow (der bekanntlich statt dem von einem internationalen Haftbefehl bedrohten Wladimir Putin teilnahm): Den Eindruck jugendlicher Dynamik konnten diese „gesetzten Herrn“ wohl kaum vermitteln. Auch dies wird sich durch einen Beitritt neuer Mitgliedsländer kaum ändern.
G20: Putin persönlich isoliert
Und schon stehen die nächsten „Gipfeltreffen“ vor der Tür, und wieder wird der russische Präsident aus bekannten Gründen nicht daran teilnehmen. Selbst wenn Indien, das Gastgeberland des G20-Gipfeltreffens am 9. und 10. September, der Rechtsgrundlage für den Internationalen Strafgerichtshof, dem Römischen Statut, nicht beigetreten ist, dürfte man Putin wohl auf diplomatischem Weg klar gemacht haben, dass aktuell seine Teilnahme an einer derartigen Konferenz kontraproduktiv und daher nicht erwünscht ist.
Nichts könnte besonders auch die persönliche Isolation des russischen Staatsoberhaupts besser charakterisieren. Dass nach der Bestätigung des Todes von Jewgeni Prigoschin auch im eigenen Land kaum jemand den phantasievollen Erklärungsvarianten des offiziellen Russland Glauben schenken dürfte und im Falle eines Mordauftrags Putin als Lügner und Vertragsbrecher bloßgestellt wäre, wird wohl kaum dazu beitragen, ihn auf der internationalen Bühne jemals wieder salonfähig zu machen. Es stellt sich nebenbei schon die Frage, wie lange die russische Bevölkerung wirklich noch im Glauben zu halten ist, dass allein der böse „Westen“ an der Isolation Russlands - von den Wirtschaftssanktionen über den Haftbefehl gegen das Staatsoberhaupt bis zum Ausschluss russischer Sportler:innen von vielen internationalen Veranstaltungen – schuld wäre.
Gipfeltreffen: Kaum Lösungsvorschläge
Nur kurz danach, am 18. September, beginnt die diesjährige UNO-Generalversammlung. Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass Wladimir Putin daran ebenfalls nicht teilnehmen wird, diese Frage stellt sich in diesem Fall gar nicht. Angesichts des beschriebenen „Gipfelreigens“ werden eher andere aufgeworfen: Welchen Zweck erfüllen derartige Gipfeltreffen eigentlich?
In der Ukraine überfiel ein Mitglied des UN-Sicherheitsrates seinen Nachbarn in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Gerade eben erfolgte ein Militärputsch in Gabun, nur wenige Wochen nach einem solchen in Niger, der neunte in drei Jahren in Afrika. ECOWAS-Staaten drohen mit einer militärischen Reaktion. Da findet der Verdacht einer Manipulation der Wahlen in Zimbabwe gar keinen Platz mehr in den Schlagzeilen. Gipfeltreffen bieten Raum für pompöse Inszenierung, perfekte Organisation und diplomatischen Austausch. Man demonstriert dabei (Ausnahmen bestätigen die Regel), dass man sich auf Augenhöhe respektiert und auf zivilisierte Weise austauscht.
Sie können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie kaum Lösungskompetenz aufweisen, dass eine regelbasierte internationale Ordnung des Verkehrs zwischen Staaten gerade eben nachhaltig gestört wird und dass Versuche, die Defizite der UNO auf Basis interessengeleiteter Staatengruppen auszugleichen, gescheitert sind. Dies und die damit verbundene Drohung, dass das mühsam und blutig erkämpfte Völkerrecht wieder durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellt neben – und im synergetischen Wirken mit - dem Klimawandel wohl die hauptsächliche Herausforderung für die nächste Periode der Menschheitsentwicklung dar.
Zusammenfassung
- Große Teile Afrikas drohen im Chaos zu versinken.
- China versucht, neue Allianzen gegen den "Westen" zu schmieden.
- Und während die ukrainischen Streitkräfte nunmehr wichtige Geländegewinne im Rahmen ihrer Offensive verzeichnen können, übt sich Europa nach wie vor in strategischer Apathie und beschäftigt sich hauptsächlich mit sich selbst.