Geisel-Verhandler: "Werden den Rest ihres Lebens traumatisiert sein"
Am 7. Oktober attackierte die islamistische Hamas Siedlungen in Israel und verschleppte zahlreiche Menschen in den Gazastreifen. "Wir haben die Familien von 199 Geiseln informiert", sagte der israelische Militärsprecher Daniel Hagari am Montag. "Die Armee und Israel arbeiten rund um die Uhr daran, sie zurückzuholen."
Zurzeit würde Israel noch Geheimdienst-Informationen sammeln, sagt der Aktivist Gershon Baskin im PULS 24 Interview. Er hat Erfahrung mit der Hamas: 2011 half er bei Verhandlungen zur Freilassung eines israelischen Soldaten, der 2007 von der Hamas gekidnappt wurde.
PULS 24: Sie verhandeln seit einer langen Zeit bei Geiselnahmen, haben auch schon Erfolg gehabt, 2011 bei einem israelischen Soldaten, der freigekommen ist. Kann man das mit jetzt vergleichen?
Gershon Baskin: Nein, es ist nicht vergleichbar. Damals war das ein israelischer Soldat, der von einer Militärbasis entführt worden ist. Er war eine Einzelperson, die Hamas konnten ihn fünf Jahre lang vor den Israelis verstecken.
Jetzt handelt es sich um 200 Geiseln, Frauen, Kinder, Säuglinge. Alte Menschen, kranke Menschen. Ich glaube so etwas hat es noch nie bei einem Konflikt gegeben, so viele Geiseln. Seit achtzehn Jahren sagt Israel: "Wir müssen die Hamas stürzen." Aber es war immer nur ein leerer Spruch. Jetzt ist die Realität.
Es sind so viele Geiseln. Wissen Sie, wo die sein könnten? Vermutlich nicht alle am gleichen Ort?
Wir können uns sehr sicher sein, dass sie nicht am gleichen Ort sind. Sie werden vermutlich auch nicht alle von Hamas-Gruppen gefangen gehalten. Der Islamische Jihad soll zum Beispiel auch Geiseln genommen haben und ich habe heute einen Experten gehört, der meinte, es gibt wohl auch Geiselnehmer, die nicht offiziell einer Terrorgruppierung angehören. Sie sind wohl im Gazastreifen verteilt.
Das ist wohl ein Grund, warum die israelische Bodenoffensive noch nicht gestartet hat. Weil Israel jetzt noch Geheimdienst-Informationen sammelt. Bei den Körpern von Palästinensern, die auf israelischem Boden getötet worden sind, hat man hunderte Telefone gefunden. Israel hat die Technologien, um jetzt tausende Handys in Gaza zu prüfen. So versuchen sie, noch mehr über die Militärpläne der Hamas herauszufinden oder wo die Geiseln gefangen gehalten werden.
Aber gibt es einen klaren Plan? Wenn man jetzt nicht auf die Menschlichkeit der Hamas hofft - vielleicht ein Gefangenenaustausch mit Palästinensern?
Das meine ich mit einem kleineren Deal für die Frauen, Kinder, älteren oder kranken Menschen. In Israel sind 43 Frauen und 190 Minderjährige aus Palästina im Gefängnis. Alle aus dem Westjordanland, nicht aus Gaza und soweit ich weiß, hat keiner von ihnen Israelis getötet. Da wäre ein Deal denkbar.
Die Israelis wissen also, wo sich zumindest manche der Geiseln aufhalten. Ist es realistisch, dass sie Gaza stürmen, um sie herauszuholen?
Ja, das werden sie tun. Wenn wir keine Freilassung verhandeln können, dann wird es Rettungsmissionen geben, manche erfolgreich, manche nicht.
Sie haben ihre privaten Verbindungen, Wege um mit beiden Seiten zu kommunizieren. Ist es möglich, so noch mehr darüber herauszufinden, was mit den Geiseln passiert? Abgesehen davon, was man auf Social Media erfährt.
Die Hamas werden kaum Informationen über die Geiseln preisgeben. Sie geben kaum Informationen preis, und wenn doch, dann nur, um psychologische Kriegsführung zu betreiben. Gestern haben sie etwa ein Video von einer jungen Frau hochgeladen, die noch lebt, aber verletzt ist. Israel wird mir wohl eher Informationen geben, aber auch bei ihnen ist es schwer. Die Verantwortlichen dort meinen, sie wissen alles. Sie wollen keine Helfer von außen wie mich.
Können Sie mir sagen, was denn die Schwierigkeiten sind, die bei den Verhandlungen jetzt aufkommen können?
Es gibt ein großes Dilemma: Was ist das Hauptziel? Die Hamas zu stürzen und ihre Anführer zu töten? Oder die Geiseln zu retten? Das ist das Dilemma der Entscheidungsträger. Ich deute die Entscheidungen so, dass das militärische Ziel Vorrang hat. Danach kommt die Rettung.
Können Sie sagen, was die Menschen bei ihrer Freilassung brauchen können und was sie dann durchleben müssen?
Was sie brauchen, ist Frieden und ihre Familie wiederzusehen. Sie werden den Rest ihres Lebens traumatisiert sein. Es wird Verletzte geben. Ich denke, viele leben nicht mehr. Der Onkel eines guten Freundes von mir braucht zum Beispiel eine bestimmte Medizin zum Überleben. Es gibt Leute mit Diabetes. Ohne Insulin sterben sie. Eine Person ist auf dem Autismus-Spektrum und braucht Medizin.
Dort sind kleine Kinder, die entsprechendes Essen brauchen. Haben sie das? Bekommt irgendwer von den Menschen die Nahrung, die sie brauchen? Gibt es Wasser? Medizin? Wir wissen es nicht. Wir werden es sehen, wenn sie freikommen. Wer dann noch lebt, wird für immer leiden.
Es klingt, als würden Sie viel über die Geiseln wissen, oder?
Israel hat eine Liste mit 199 Namen. Ich weiß nicht, wer die Menschen sind. Eine sehr gute Freundin von mir ist einer der Geiseln. Eine 74-jährige Friedensaktivistin. Sie ist aus ihrem Kibbuz entführt worden.
12 Verwandte von einem Freund von mir. Sie haben in meiner Nachbarschaft gewohnt. Sie haben ihre Familie besucht und dort gab es dann einen Überfall. Irgendwie kennt jeder in Israel eine Person, die getötet oder entführt worden ist. Wir sind ein kleines Land, wo die Menschen sich nahestehen. Jeder kennt jemanden, der betroffen ist.
Mr. Baskin, vielen Dank für Ihre Zeit.
Zusammenfassung
- Die Hamas hält weiterhin 199 Geiseln im Gaza-Streifen gefangen, darunter auch ausländische Staatsbürger:innen.
- Die israelische Armee arbeitet daran, die Geiseln zu befreien.
- PULS 24 hat mit Gershon Baskin gesprochen, der bei einem erfolgreichen Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas Verhandler war.
- "Eine sehr gute Freundin von mir ist eine der Geiseln", so Baskin.
- "Ich glaube so etwas hat es noch nie bei einem Konflikt gegeben, so viele Geiseln." Sie würden für den Rest ihres Leben traumatisiert sein.