Ferrero-Waldner: Neutrale dürfen Kopf nicht in Sand stecken
Als EU-Außenkommissarin (2004 bis 2009) war Ferrero-Waldner federführend für die milliardenschwere EU-Nachbarschaftspolitik verantwortlich, die heutige Konfliktländer wie Weißrussland, Israel, die Palästinenser-Gebiete, Russland, Syrien und die Ukraine umfasste. "Der damalige Ansatz war aus der Sicht der EU damals richtig", sagte Ferrero-Waldner: "Wir wollten einen Ring von Freunden um die erweiterte EU bauen, die einen Anreiz für Reformen in vielen Bereichen und damit für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit herbeiführen sollte, aber auch mehr wirtschaftliche Integration, nach dem Motto, wer mehr Reformen durchführt, erhält auch mehr Finanzmittel und Unterstützung."
Mit dem Einmarsch Russlands in Georgien 2008 habe das Pendel begonnen, in die andere Richtung auszuschlagen. "Die jugendlichen Proteste am Maidan-Platz in Kiew waren dann offensichtlich der Wendepunkt für Russlands Politik", analysierte die damalige EU-Kommissarin. Im Jahr 2009 äußerte Moskau Bedenken gegen die "Östliche Partnerschaft" und schuf ein Gegenmodell, nämlich die "Eurasische Zollunion" und die "Eurasische Wirtschaftsunion" - "womit ein Verhältnis der Rivalität entstand. Aber hätten wir deshalb unsere Nachbarschaftspolitik, die keinesfalls gegen Russland gerichtet war, aufgeben sollen?", fragte sie.
Dass durch eine Annäherung weiterer ex-sowjetischer Länder an die EU neue Konflikte mit Russland entstehen könnten, schloss Ferrero-Waldner nicht aus. "Meine Meinung ist, dass der Ausgang des Russland-Ukraine-Krieges und die Art seiner Beendigung Aufschluss über diese Frage geben werden." Durch den russischen Angriffskrieg habe sich die EU "aus moralischen Gründen" entschlossen, der Ukraine, aber auch Moldau und Georgien eine Beitrittsperspektive einzuräumen. "Es wird sicher ein längerfristiger Verhandlungsprozess." Ihr sei aber "wichtig, dass vor allem auch die sechs Westbalkanstaaten mit zügigen Verhandlungen rechnen können, da sie seit der Thessaloniki-Erklärung (2003) warten, künftig EU-Mitglieder werden zu können."
Sie habe den russischen Präsidenten Wladimir Putin in den Jahren 2000 bis 2010, zuerst als österreichische Außenministerin und dann von 2004 bis Ende 2009 als EU-Kommissarin bei halbjährlich stattfindenden Gipfeln zu Gesprächen getroffen, erzählte Ferrero-Waldner. Dabei habe sie "festgestellt, dass er in den Gesprächen in den letzten Jahren immer härter auftrat".
Putin habe "Gas als Mittel seiner Politik" zum ersten Mal im Jahr 2005 gegenüber der Ukraine wegen Gaspreisdifferenzen eingesetzt, "was übrigens von der EU-Kommission und dem österreichischen EU-Vorsitz beigelegt wurde. Aber er hat nochmals den Gashahn 2009, wieder wegen Differenzen über den Gaspreis mit der Ukraine, für zwei Wochen zugedreht, was uns die Energieabhängigkeit von Russland vor Augen geführt hat."
Trotz dieser Entwicklungen plädierte Ferrero-Waldner für eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit Russland nach Kriegsende. "Wenn es ein Ende des Russland-Ukraine-Krieges gibt, dann müsste in irgendeiner Form, in absehbarer Zeit, ein Dialog mit Russland begonnen werden", erklärte sie. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) könne hier eine "Wiederbelebung erfahren. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir es für eine bestimmte Zeit mit einem neuen 'Kalten Krieg' zu tun haben werden." Fragen der Europäischen Sicherheitsarchitektur bzw. Abrüstungsfragen könnten jedenfalls auf der Tagesordnung stehen.
Zu ihrer Zeit als EU-Kommissarin habe sich die EU außerdem "sehr intensiv um den Nahen Osten gekümmert. Die damalige Zusammenarbeit im Nahost Quartett, aber auch mit unseren Aktionsplänen im Rahmen der Nachbarschaftspolitik waren sehr wichtig", so Ferrero-Waldner. Aktuell ist sie Mitglied der Allianz der Zivilisationen der Vereinten Nationen (UNAOC) unter der Führung des früheren spanischen Außenministers Miguel-Angel Moratinos.
In einer kürzlich angenommenen Erklärung forderte die Allianz, dass "jetzt die Zeit ist, den Staat Palästina anzuerkennen". Ein anhaltender Frieden sei nur erreichbar, wenn Israel die Besatzung der Palästinenser-Gebiete aufgebe. Das Papier rief außerdem alle Seiten zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts auf sowie die Hamas und andere Gruppen zur Freilassung aller aus Israel entführter Geiseln. Dieser Erklärung zum Nahost-Konflikt von Mitte März stimme sie "vollinhaltlich zu", versicherte Ferrero-Waldner.
(Das Interview führte Alexandra Demcisin/APA)
Zusammenfassung
- Benita Ferrero-Waldner, ehemalige EU-Kommissarin, spricht sich für ein verteidigungspolitisches Zusammenwachsen Europas aus und unterstützt eine engere Bindung neutraler Länder an die NATO.
- Während ihrer Amtszeit (2004-2009) leitete sie die EU-Nachbarschaftspolitik, die auf eine Stärkung der Beziehungen zu Ländern wie Weißrussland, Israel und der Ukraine abzielte.
- Sie betont die Notwendigkeit eines Dialogs mit Russland nach dem Ende des Ukraine-Krieges und sieht eine mögliche Rolle für die OSZE bei der Wiederbelebung des europäischen Sicherheitsdialogs.