Reportage
"Tour nach Straßburg": Die Welt soll "Stimme Serbiens hören"
Die Frühlingsnacht hüllt den Maria-Theresien-Platz in Dunkelheit, Kälte liegt in der Luft. Den rund 2.000 Menschen, die sich am Montagabend in der Wiener Innenstadt versammelt haben, ist das egal. Sie tanzen zu "Bella Ciao" zwischen dem Kunst- und Naturhistorischen Museum, singen laut zu serbischen Liedern, die aus den Lautsprechern schallen.
Roter Teppich am Maria-Theresien-Platz
Serbische Fahnen, aber auch die ein oder andere slowenische und bosnische Flagge, wird auf dem Maria-Theresien-Platz geschwenkt. Inmitten des Platzes liegt ein roter Teppich. Er ist für die rund 80 serbischen Demonstrant:innen bestimmt, die bald auf ihren Fahrrädern in Wien ankommen sollen.
Sie sind der Grund, warum sich die Menschen versammelt haben. Sie sind auch diejenigen, die in Serbien seit Monaten eine landesweite Protestbewegung anführen.
Schlagstöcke und Zensur statt Gerechtigkeit
Seit fast fünf Monaten finden in Serbien Proteste gegen Korruption, ein Kampf für die Rechtstaatlichkeit statt. Die von Student:innen angeführte landesweite Protestbewegung fordert ein in manchen Ländern selbstverständliches Recht: Dass die zuständigen Institutionen ihre Arbeit machen und die laut Verfassung geltenden Gesetze eingehalten werden.
Der Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen, zeigte laut den Demonstrant:innen "die Wahrheit über ein System, in dem Leben in einer Kette aus Korruption und Fahrlässigkeit zu Zahlen werden".
"Anstatt Verantwortung zu übernehmen, überhäuft uns die Regierung mit Gewalt. Statt Gerechtigkeit gibt es Schlagstöcke, Trampeln und Tränengas. Statt Dialog, Gefängnis und Zensur. Die Proteste weiteten sich aus und die Unterdrückung wurde immer brutaler", betonten sie.
Im Zuge einer Protestaktion radelten am 3. April nun rund 80 der Demonstrant:innen von Novi Sad los. 1.300 Kilometer werden sie insgesamt zurücklegen, bevor sie an ihrem Ziel in Straßburg ankommen. Da die seit Jahrzehnten größten Demonstrationen in Serbien von der EU bisher keine Aufmerksamkeit bekommen haben, wollen die Demonstrant:innen den Europarat und die EU-Institutionen direkt über die Proteste und ihre Forderungen informieren. Sie wollen, dass die Welt "die Stimme Serbiens hört".
Die Bürger trauerten, während die Institutionen leere Versprechungen machten und falsches Mitgefühl zeigten. Anstatt Verantwortung zu übernehmen, überhäuft uns die Regierung mit Gewalt. Statt Gerechtigkeit gibt es Schlagstöcke, Trampeln und Tränengas. Statt Dialog, Gefängnis und Zensur. Die Proteste weiteten sich aus und die Unterdrückung wurde immer brutaler.
Auf ihrer insgesamt 13 Tage langen "Tour nach Straßburg" (serbisch: "Tura do Strazbura") bleiben sie in mehreren europäischen Städten stehen und werden feierlich von der serbischen Diaspora begrüßt.
So auch am Montag in Wien. Begleitet von der Polizei und vier Stunden verspätet - das Wetter meinte es nicht gut - kommen die Demonstrant:innen aus Bratislava auf dem roten Teppich an.
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Die Menschen heißen sie lautstark willkommen. Sie klopfen ihnen auf die Schultern, rufen "Bravo" und "Ihr seid Helden!". Als die Demonstrant:innen von ihren Fahrrädern absteigen, fallen sie sich gegenseitig vor Freude in die Arme. Sie heben ihre Fahrräder hoch, jubeln und sind sichtbar gerührt von der Unterstützung in der österreichischen Bundeshauptstadt.
Video: Ankunft der serbischen Protest-Radler in Wien
"Mein Herz ist voll"
Sie sind erschöpft - aber der Zweck ist wichtiger, die Freude ist größer. "Ich bin sehr müde, aber sehr glücklich", erzählt einer von ihnen gegenüber PULS 24 und den anderen Medien. Von so vielen Menschen, wie am Montagabend in Wien, wurden sie bisher noch nicht erwartet, geben einige von ihnen sichtbar gerührt zu.
Das Gefühl, so erwartet zu werden, sei "unglaublich, einmalig". "Ich bin sprachlos. Wer das nicht erlebt hat, hat einen Fehler gemacht", erzählt einer von ihnen mit Blumen in der Hand, die ihm bei der Ankunft überreicht wurden.
Ein Demonstrant ist sogar verletzt - er ist während der Fahrt von Rad gefallen und hat sich am Kinn verletzt. Von dem Schmerz spüre er aber nichts, meint er. "Mein Herz ist voll. Die Emotionen kochen über", erzählt er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Serbische Protest-Radler im Interview: "Wir kämpfen alle zusammen"
"Hat es nie gegeben und wird es nie wieder geben"
Unter den rund 2.000 Versammelten ist auch die 76-jährige Ruža (Name redaktionell geändert). "So etwas hat es noch nie gegeben und wird es nie wieder geben", erzählt sie gegenüber PULS 24 auf die Frage, warum sie heute hier ist.
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Die ganze Welt müsse "diesen Willen und diese Kraft" sehen und spüren. Sie kommt ursprünglich aus der Vojvodina im Norden Serbiens, lebt aber seit 54 Jahren in Wien. In den 70er-Jahren sei sie eigentlich für ein Jahr nach Österreich gekommen, dieses Jahr dauere aber immer noch an, scherzt sie im Interview mit PULS 24. Was sich in Serbien ändern muss? "Das System, es gibt kein Gesetz". Dass die Regierung dafür verantwortlich ist, steht für sie außer Frage. "Wer denn sonst?", meint sie.
"Das System in Serbien ist schon seit vielen Jahren schlecht", meint ein weiterer Mann gegenüber PULS 24. Er ist hier, um die Student:innen zu unterstützen, die dieses System verändern wollen und hofft, dass ihnen das gelingen wird. Damit steht er am Montagabend nicht allein da.
"Kämpfen alle zusammen"
Die Reise der Demonstrant:innen geht bereits am nächsten Tag weiter. Auf ihrem Weg machen sie noch in Emmersdorf an der Donau, Linz, Salzburg, München, Ulm und Stuttgart Halt, bevor sie am 15. April schließlich in Straßburg ankommen wollen. Dort wollen sie den Institutionen der EU und des Europarats offizielle Dokumente und Berichte übermitteln, da diese die Möglichkeit haben, "direkt und indirekt" Einfluss auf die serbischen Behörden auszuüben. So wolle man zusätzlichen Druck schaffen.
Denn die Reise haben die serbischen Studierenden "nicht ohne Grund begonnen", sondern "weil wir keinen anderen Ausweg sehen". Auch bei der Kundgebung in Wien erinnert einer von ihnen: "Lasst uns nicht vergessen, warum wir hier sind".
"Dies ist nicht nur eine Radtour – dies ist eine Reise der Hoffnung, des Widerstands und der Stimme all derer, die zum Schweigen gebracht werden", betonten die Studierenden. Ihre Motivation und ihr Kampfdrang haben auch nach fast fünf Monaten nicht nachgelassen.
"Das Ende ist sichtbar und das sehen alle um uns herum. Egal durch welche Gewalt wir gehen, wir kämpfen alle zusammen".
Zusammenfassung
- Student:innen, die in Serbien seit Monaten eine landesweite Protestbewegung anführen, haben sich mit ihrem Fahrrad auf eine 1.300 Kilometer lange Reise nach Straßburg gemacht.
- Dort wollen sie der EU höchstpersönlich von ihrem Kampf für die Rechtstaatlichkeit erzählen.
- Auf ihrem Weg wurden sie in Wien mit Euphorie, Unterstützung und großer Freude empfangen.
- Eine Reportage.