Annie Ernauxs Abschied von ihrer Mutter
Die Einträge reichen von Dezember 1983 bis April 1986, dem Todesmonat der Mutter. Ernaux schildert nüchtern und ohne Beschönigung die fortschreitende Krankheit, die Wandlung einer stolzen, eigenständigen Frau hin zu einer Pflegebedürftigen, die in einem Pflegeheim lebt - und deren Persönlichkeit allmählich verschwindet.
Die Autorin leidet unter der Tatsache, ihre Mutter in ein Heim gegeben zu haben. Bei jedem Besuch kämmt sie ihr die Haare und füttert sie. "Sie ist meine Mutter, und sie ist es nicht mehr", schreibt sie an einer Stelle - ein Satz, der das ganze Drama widerspiegelt.
Im Widerspruch der Gefühle
Ernaux spart dabei nicht ihre eigenen widersprüchlichen Gefühle aus: Schuld, Abscheu, Zärtlichkeit, Hilflosigkeit - und schließlich die Einsicht: "Ich habe sie akzeptiert, wie sie war, in ihrem Verfall." Was das Buch so eindrucksvoll macht, ist der unverwechselbare Stil der Autorin: radikal unsentimental, analytisch und gleichzeitig zutiefst menschlich. Sie beobachtet mehr, als dass sie urteilt. Sie dokumentiert mehr, als dass sie erzählt.
Die Sprache wird für die 84-jährige Nobelpreisträgerin ein Instrument des Widerstands gegen das Vergessen. Als sie das Tagebuch verfasste, war Ernaux Mitte 40. Es erschien in Frankreich 1997 und damit mehr als zehn Jahre nach den geschilderten Ereignissen - obwohl sie, wie sie selbst schreibt, lange glaubte, es niemals zu veröffentlichen.
Abschied in Zeitlupe
"Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" ist das Protokoll eines Abschieds in Zeitlupe. Es ist ein schmaler, radikal ehrlicher Text über den Zerfall von Identität und einer Tochter, die versucht, etwas festzuhalten, das ihr gleichzeitig entgleitet.
Ernaux gibt der Angst, der Sprachlosigkeit, die viele Angehörige von Alzheimer-Kranken erleben, eine Stimme. Sie schreibt nicht nur über den Tod ihrer Mutter - sie schreibt auch über das Zerbrechen familiärer Rollenbilder.
(Von Sabine Glaubitz/dpa)
(S E R V I C E - Annie Ernaux: "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus", Suhrkamp Verlag Berlin 2025, 106 Seiten, 22,70 Euro. www.suhrkamp.de)
Zusammenfassung
- Annie Ernaux beschreibt in ihrem Tagebuch "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" die letzten Lebensjahre ihrer Mutter, die von Dezember 1983 bis April 1986 an Alzheimer litt.
- Ernaux schildert die Transformation ihrer Mutter von einer stolzen Frau zu einer Pflegebedürftigen und reflektiert ihre eigenen widersprüchlichen Gefühle.
- Das Buch, veröffentlicht 1997, gibt der Sprachlosigkeit von Angehörigen eine Stimme und kostet 22,70 Euro.