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Das System Orbán: Ungarns Kampf gegen die eigene Bevölkerung

Vor dem ungarischen Ministerpräsidenten wird gewarnt und es laufen Verfahren gegen die ungarische Regierung, weil sie mutmaßlich Menschenrechte beschneidet. Gespräche über Ausgrenzung, schwindende Rechte und Verschlechterung der Gesundheitsversorgung.

Spätestens als man Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Straches Lobhudelei über Viktor Orbán im Ibiza-Video hörte, wurde "Orbánisierung" ein Kampfbegriff in Österreich. Strache wolle Österreich nach dem Vorbild von Orbáns Ungarn umbauen.

Aber was heißt die "Orbánisierung" für Menschen in Ungarn im täglichen Leben? PULS 24 hat sich bei Organisationen, NGOs und Vereinen in Ungarn umgehört.

Schwule und Lesben als Feindbild

Dorottya Rédai wurde 2021 mit ihrem Bildungsprojekt Labrisz über die Grenzen Ungarns bekannt. Sie war Mitherausgeberin eines Kindermärchen-Buches mit dem Titel "Märchenland für alle". Das Buch enthält 17 umgedichtete Märchen, in denen gesellschaftliche Minderheiten vorkommen – Schwule, Roma, Transpersonen. Für Politiker der rechten Orbán-Partei Fidesz ist dies "homosexuelle Propaganda".

Dorottya RédaiPULS 24/Franziska Schwarz

Dorottya Rédai ist Aktivistin bei Labrisz Lesbian Association.

"Wir wollten Menschenrechte vermitteln", sagt Rédai über ihr Projekt. Der ungarischen Regierung passte das nicht. Diese hatte entschieden, dass NGOs und Schulen auf einem Regierungsportal bekanntgeben müssen, welche externen Bildungsangebote sie wahrnehmen. Aber es gibt keine Möglichkeit zur Registrierung.

Damit gibt es zwar kein Verbot, aber Bildungsarbeit kann Labrisz nicht mehr anbieten, das Programm wurde nach 20 Jahren geschlossen.

Eine Chronologie des Rechte-Entzugs

Die Situation für lesbische, schwule, queere, nicht-binäre Menschen in Ungarn war nie gut. Die letzte positive Entwicklung gab es 2009, sagt Áron Demeter von "Amnesty International Ungarn". Damals wurde die eingetragene Partnerschaft eingeführt.

Heute sind in Ungarn nur Männer und Frauen eine Familie. Alle, die diesem Bild nicht entsprechen, werden mit Pädophilen gleichgesetzt - so wolle die Regierung das darstellen, sagt Demeter.

2020 begannen die Einschränkungen. Die ungarische Regierung entzog Transpersonen das Recht, ihr Geschlecht und ihren Namen in offiziellen Dokumenten zu ändern. Davor war das jahrzehntelang möglich.

"Leben ging weiter"

2021 wurde das sogenannte "Propaganda-Gesetz" verabschiedet. Damit wurde versucht, LGBTQ-Personen in Schulen, Medien und Büchern zu verbieten. Mittlerweile gibt es in Bulgarien ein ähnliches Gesetz. Das erste Gesetz dieser Art wurde 2012 in Russland verabschiedet.

Die EU-Kommission hatte direkt nach der Verabschiedung ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn angestoßen, weil das Gesetz so klar gegen die Rechte der Betroffenen verstieß.

2022 hatte die Regierung die Bevölkerung im Zuge der nationalen Wahl über dieses "Anti-LGBTQ"-Gesetz abstimmen lassen. Die Frage sei sehr suggestiv gewesen, erzählt Áron Demeter. "Wollen Sie, dass das Geschlecht ihres Kindes im Kindergarten geändert wird", wurde zum Beispiel gefragt. 

Áron DemeterPULS 24/Franziska Schwarz

Áron Demeter arbeitet für Amensty International Ungarn. 

Aber vor allem für die Transpersonen sei die Situation sehr düster. "Sie haben alle Hoffnung verloren, zu leben, wie sie wollen", so Demeter. 

Letzter Ausweg Land-Verlassen?

"Viele Transpersonen ziehen aus Ungarn weg", erzählt Luca Dudits von Háttér. "Für ihre Sicherheit und ihre Würde."

Háttér ist die größte Schwulen- und Lesbenorganisation Ungarns. Sie existiert seit 30 Jahren und betreibt ein Archiv, einen Rechtshilfeservice, Beratungsangebote und weitere Service-Leistungen.

"Aber Wegziehen ist nicht für alle eine Option, dafür braucht man Geld und muss andere Sprachen beherrschen." Für Transpersonen sei gesundheitliche Versorgung mit Focus auf transspezifische Anliegen nur mehr privat verfügbar.

Aktuell wird vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt, ob Ungarn Geschlechtsänderungen anerkennen muss. Aber das werde Jahre dauern, so Luca Dudits.

Luca DuditsPULS 24/Franziska

Luca Dudits arbeitet für Háttér Society.

"Die EU hat Ungarn lange nicht zur Rechenschaft gezogen, Schritte wurden zu spät gesetzt, aber die EU war zuerst eine Wirtschaftsunion."

In den letzten Jahren habe die Regierung versucht, Schwule, Lesben und Transpersonen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. So wurde Jugendlichen 2023 der Zugang zur "World Press Photo"-Ausstellung verboten, 2024 wollten die damaligen Veranstaltungsorte die Ausstellung nicht mehr ausrichten. 

Aktuell ist es verboten, dass Bücher, die sich mit LGBTQ-Themen beschäftigen, in 200 Metern Entfernung zu einer Schule verkauft werden. Mittlerweile wird das penibel kontrolliert, so Dudits. Zuletzt wurde auch ein Buchgeschäft gestraft, das nur eine Click-and-collect-Option zum Abholen anbot.

(Selbst)zensur 2.0.

Lange Zeit habe niemand in Ungarn gewusst, was man nun dürfe und nicht dürfe, weil die Gesetze eben sehr vage waren. "Die Leute hatten Angst, aber das Leben ging weiter." Aber seit 2023 gehen vor allem vom Ministerium für Konsumentenschutz Untersuchungen gegen Firmen aus, die mutmaßlich das "Propaganda-Gesetz" verletzen. 

So zum Beispiel Buchgeschäfte - weil sie Bücher mit LGBTQ-Themen nicht verhüllten und separierten, aber auch TV-Stationen. Sogar große internationale Firmen, wie der Möbel-Konzern Ikea knicken vor dem Gesetz ein. So bewirbt Ikea in Ungarn zum Beispiel nicht mehr, dass sie Geld an de Organisation Háttér spenden, erzählt Áron Demeter.

Werbeagenturen, Firmen und TV-Studios versuchen Konflikte mit dem Gesetz zu vermeiden und das bedeutet, dass Kampagnen, Bücher und Serien einfach nicht gemacht werden. "Wir haben mit dem größten Fernsehsender in Ungarn gesprochen, RTL, und der Chef sagte uns, dass das eine neue Art der Zensur sei." Dieser Chef wüsste aber gar nicht, welche Programme zensiert werden, weil diese Entscheidungen von Produzent:innen und Redakteur:innen getroffen werden.

Gewisse Sendungen werden nicht gekauft, schwule Menschen werden nicht in Reality-TV-Shows gecastet. Ein Anwalt des TV-Senders hatte gegenüber Amnesty erklärt, dass diese Erfahrung für ihn "beschämend" sei. Aktuell betrifft diese Art der Zensur aber vor allem Verlage. Die Geldstrafen seien massiv. 

Das Propaganda-Gesetz würde als nicht nur verwendet, um gegen Gruppen und Personen vorzugehen, sondern führe auch zu einer starken Selbstzensur. 

"... dann hasst ihr auch mich"

Trotz der gesetzlichen Einschränkungen werde die ungarische Öffentlichkeit aber immer offener gegenüber LGBTQ-Personen. "Es gibt einen Teil der ungarischen Bevölkerung, der den Gedanken hasst, dass zwei Männer heiraten können, aber das ist definitiv die Minderheit." 

Luca Dudits denkt, dass sich die öffentliche Einstellung gegenüber Schwulen, Lesben und Transpersonen auch verbessert, weil sich viele in Anbetracht der drastischen politischen Situation öffentlich outen. "Ich habe Freund:innen, die 20, 30 Jahre nicht geoutet waren und jetzt auf Facebook gepostet haben, dass sie schwul sind. 'Wenn ihr Schwule hasst, dann hasst ihr auch mich.'" Es sind die Nachbarn oder Tanten.

Die LGBTQ-Community hat nur einander, so Luca Dudits. Und, dass sich die öffentliche Meinung ändert, das sei ein sehr vielversprechendes Zeichen. "Wir haben viele mutige Menschen gesehen", Menschen, die zeigen, dass es hier nicht um eine kleine Minderheit geht.

Áron Demeter sieht, dass es der Regierung in erster Linie darum geht, ihre Unterstützer zu stärken und gleichzeitig den Rest der EU zu verärgern. Denn derartige Gesetze seien nirgends mehr in Ordnung.

15 EU-Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament hatten sich dem Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn angeschlossen und das sei ein sehr klares Zeichen, dass Homophobie und Transphobie in den meisten EU-Ländern nicht in Ordnung sind. Rund 30.000 Menschen besuchen jährlich die Pride-Parade in Budapest und "wir können uns frei bewegen". 

Pride BudapestAFP

Die Pride Parade wird jährlich von der Lgbtq-Community veranstaltet, um an den Stonewall-Aufstand in New York City zu erinnern. Bei dem Aufstand führte die Polizei eine Razzia in der Schwulen-Bar "Stonewall" durch.

Institutionalisierte Stigmatisierung

Die LGBTQ-Community in Ungarn fühlt sich isoliert, weil die Regierung sie "hasst". Für Demeter scheint es, als ob Homo- und Transphobie ein kontinuierlicher Teil der Kommunikation der Fidesz-Partei bleiben werden. 

"Pegasus"-Software: Missbrauch einer Cyberwaffe

Auch andere Gruppen mussten als derartige Opfer herhalten, unter anderem Roma. Aber das sei für Fidesz ein "One-Hit-Wonder" gewesen. Flüchtlinge und LGBTQ-Gruppen sind die "Lieblingshassobjekte" der Regierung.

Besonders schwierig sei die Situation seit das "Souveränitätsschutzamt" aus dem im Dezember 2023 verabschiedeten Souveränitätsverteidigungsgesetz entstanden ist, so Demeter. Damit wurde die Stigmatisierung regierungskritischer Stimmen institutionalisiert. Wer im Visier der Organisation steht, kann sich nicht wehren, so Demeter. Und das Amt hat ein Abkommen mit den nationalen Geheimdiensten, die auch in Besitz der israelischen Pegasus-Spionagesoftware sind.

Im Oktober 2024 entschied die Europäische Kommission, Ungarn wegen des Souveränitätsverteidigungsgesetzes vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen.

Überwachung ohne Kontrolle

Das Problem dabei sei, dass sich die ungarische Regierung selbst die Erlaubnis gebe, um Menschen zu überwachen. Es gibt keine Kontrolle, kritisiert Áron Demeter. 

"Ich habe nichts dagegen, wenn Terroristen oder Organisiertes Verbrechen überwacht wird. Aber ich sehe nicht, wie investigativer Journalismus oder ein ungarischer Bürgermeister die nationale Sicherheit gefährden."

Erfahren würden die Betroffenen und NGOs nur, wie viele Überwachungsbefugnisse pro Monat erteilt würden. Es seien mehrere Hundert pro Jahr und es sei relativ schwierig herauszufinden, ob man überwacht wird, erzählt Demeter. Und die Überwachung könne sehr einfach unbegrenzt verlängert werden.

Die Doppelmoral

Langfristig ist es gut, wenn Menschen über Themen sprechen, so Aktivistin Rédai. Wer in Ungarn für die politische Opposition ist, der oder die kann nicht mehr homophob sein, weil das die Position der Fidesz-Regierung ist. Als Ungarn beispielsweise den Studiengang Gender-Studies verbot, führte das dazu, dass sich auch konservative Akademiker:innen dafür aussprachen. 

Es gebe aber auch Politiker, von denen unter der Hand bekannt sei, dass sie zum Beispiel schwul sind. "Ich warte nur darauf, dass sie von einem Journalisten oder einer Journalistin geoutet werden." Für Rédai ist es befremdlich, dass diese Menschen gleichzeitig die Rechte ihrer Mitmenschen einschränken. 

So sprang 2020 ein Fidesz-Politiker aus dem Fenster, weil es bei einer illegalen Schwulensex-Orgie in Brüssel zu einer Polizei-Razzia kam - es herrschte gerade Lockdown in Belgien. Der Politiker József Szájer trat deshalb auch aus Fidesz aus, nach 32 Jahren - er war ein Gründungsmitglied und maßgeblich daran beteiligt, die Rechte von LGBTQ-Personen in Ungarn abzubauen.

Mit dem Oppositionellen Péter Magyar könne es interessant werden, er sei politisch talentiert. Viele frustrierte Wähler:innen würden nun für ihn stimmen, in der EU-Wahl im Juni erreichte seine Partei 29,7 Prozent - während Fidesz mit 44,6 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis jemals bei einer EU-Wahl einfuhr. 

Wie auch in Österreich habe die Teuerung zu einer großen Unzufriedenheit mit der Regierung geführt und Fidesz sei schon lange im Amt - zu lange, um sich auf die vorhergehende Regierung auszureden. Vor allem das Gesundheitssystem und der Bildungsbereich seien kritisch. Es habe in Ungarn nie ordentlichen Aufklärungsunterricht in Schulen gegeben, dort hatte das Bildungsprojekt Labrisz ansetzen wollen.

CPAC: Die Gesichter des EU-Rechtsrucks

Bis Dezember hat Ungarn den EU-Ratsvorsitz inne. Orbán will sich damit in erster Linie als internationaler Führer präsentieren, so Áron Demeter von Amnesty International. 

Am Mittwoch wurde Orbán als erstes Staatsoberhaupt vom frisch gewählten Nationalratspräsidenten Walter Rosenkranz (FPÖ) empfangen. Rund um das Treffen gab es laute Kritik aller Parteien. 

ribbon Zusammenfassung
  • Vor dem ungarischen Ministerpräsidenten wird gewarnt und es laufen Verfahren gegen die ungarische Regierung, weil sie mutmaßlich Menschenrechte beschneidet.
  • Die Situation für lesbische, schwule, queere, nicht-binäre Menschen in Ungarn war nie gut. Die letzte positive Entwicklung gab es 2009, sagt Áron Demeter von "Amnesty International Ungarn".
  • Ein Gespräch über Ausgrenzung, schwindende Rechte und Verschlechterung der Gesundheitsversorgung.