EU-Ratspräsident: EU braucht mehr Verteidigungsbereitschaft
Auf die Frage, ob auch Neutrale ihre Verteidigungsausgaben erhöhen müssten- in einem Entwurf der Agenda ist von einer "substanziellen Erhöhung der europäischen Verteidigungsausgaben die Rede" - sagte Michel: "Ich spüre aufseiten der EU ein neues Paradigma, die Realität hat sich geändert. In der Vergangenheit war die Konstruktion der EU auf der Idee aufgebaut, dass wir Demokratien sind und demokratische Prinzipien und Werte fördern müssen, und dass wir eine machtvolle wirtschaftliche Basis haben wollen und ökonomisch mehr kooperieren wollen. Und in der Vergangenheit haben wir Sicherheit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht als Aufgabe der EU gesehen. Wir hatten ja die NATO für die NATO-Mitgliedstaaten. Heute müssen wir mehr Verantwortung in diesem Bereich übernehmen."
Zugleich versicherte Michel, er wolle "ganz klar sein: Wir werden immer die spezifische Situation unserer Mitgliedsstaaten respektieren. Ich weiß, da ist Österreich und nicht nur Österreich, sondern auch andere Mitgliedstaaten mit einer spezifischen Situation und diesem Neutralitätsprinzip, wir respektieren immer ihre Entscheidungen." Trotzdem denke er, so Michel weiter: "Der Mainstream in der EU will zusammenarbeiten und mehr europäische Kapazitäten entwickeln, um stärker zu sein und unsere geopolitischen Interessen zu verteidigen, und will sehen, wie wir in finanzieller Hinsicht mehr für Verteidigung und Sicherheit investieren können."
Auf die Frage, ob er einen Angriff Russlands auf EU-Staaten befürchte, sagte der EU-Ratspräsident: "Es gibt viele Versuche von Russland, EU-Mitgliedstaaten zu destabilisieren. Wir wissen, dass es Versuche gibt, sich in die Innenpolitik einiger Mitgliedstaaten einzumischen." Am Donnerstag habe er in Polen mit Premier Donald Tusk darüber diskutiert, "wie Russland über Belarus versucht, die illegale Migration zu instrumentalisieren, um europäische Länder mehr unter Druck zu setzen. Wir müssen das klar sehen, wir müssen realistisch sein. Wir müssen unmittelbar unsere Widerstandsfähigkeit stärken und wir müssen rasch agieren und - wenn erforderlich - reagieren können. Und wir sehen uns neuen Bedrohungen und Herausforderungen gegenüber. Ein weiteres Beispiel: Wir wissen, was Russland für eine Rolle in einigen afrikanischen Ländern spielt. Es versucht, diese Länder zu destabilisieren und ein Narrativ gegen die EU anzufeuern, indem es zu Fake News und Desinformation greift. Es ist eine politische Waffe gegen uns."
Mit der Strategischen Agenda sollte die EU auch unabhängiger von den Vereinigten Staaten werden, erklärte der EU-Ratspräsident weiters. Auf die Frage, wie sich die EU auf eine mögliche Wiederwahl von Donald Trump als US-Präsident vorbereite, sagte Michel: "Die Tatsache, dass Sie und vieler Ihre Kollegen systematisch nach den US-Wahlen fragen, zeigt etwas. Es zeigt uns, dass wir von Seiten der EU mehr Verantwortung für unser Schicksal und unsere Zukunft übernehmen müssen. Grundsätzlich sollten wir uns über Wahlen außerhalb Europas keine Sorgen machen. Deshalb haben wir die Strategische Agenda, dieses Programm mit fundamentalen Pfeilern, um eine stärkere, resilientere und einflussreichere EU aufzubauen. Das ist ganz grundlegend. Und es ist ganz wichtig, dass 27 Leaders mit der starken Legitimität, die sie haben, zusammenarbeiten. Auf Ebene der EU machen wir alles, um Entscheidungen in unserem Interesse, im Interesse der 27 Mitgliedstaaten, zu machen."
(Das Interview führte Thomas Schmidt/APA)
Zusammenfassung
- EU-Ratspräsident Charles Michel fordert eine substanzielle Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft und militärischen Kapazitäten der EU für die kommenden fünf Jahre.
- Michel betont die Respektierung der Neutralität Österreichs und anderer EU-Staaten, sieht jedoch die Notwendigkeit, als EU geopolitische Interessen gemeinsam zu verteidigen.
- Angesichts von Destabilisierungsversuchen Russlands und der Notwendigkeit, unabhängiger von den USA zu werden, strebt Michel eine stärkere EU an, die ihre Sicherheit eigenständig gewährleisten kann.