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"Keine Wohlfühlzone": Wie Berlin auf den Rechtsruck reagiert
Hauben und Schals in Regenbogenfarben, glitzernde Winterjacken und Handschuhe statt Oben-Ohne, Netz-T-Shirt und Hot-Pants. Erstmals wurde am Samstag in Berlin im Winter ein Christopher Street Day (CSD) abgehalten.
Erstmals demonstrierte die queere Community dabei nicht für mehr Rechte, sondern für den Erhalt der bestehenden. Denn am kommenden Sonntag wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt - und es wird ein massiver Rechtsruck befürchtet. Die gescheiterte Ampelregierung wird wohl abgestraft. Die CDU führt alle Umfragen an, die AfD wird ein starkes Plus verzeichnen.
Im Randbezirk Marzahn-Hellersdorf holte die AfD schon bei der Europawahl Platz 1 und hofft hier im Bundestagswahlkampf auf ein Direktmandat. Ein Besuch im zehnten Bezirk offenbart, dass der Rechtsruck auch vor der Bundeshauptstadt nicht Halt machen könnte.
Zwischen den großen Wohnbauten in Marzahn pfeift ein kalter Wind. Hinter dem Einkaufszentrum "Eastgate" ist die Stimmung grau: Der Abendhimmel ist grau, die Wohnkomplexe sind grau und grau ist das Pflaster zwischen den Blocks.
Junge Burschen mit Kapuzen blasen den Dampf aus ihren elektrischen Zigaretten in die Abendluft. Kinder schießen sich gegenseitig mit Schneebällen ab. Aus der S-Bahn strömen die Menschen, die von der Arbeit im Zentrum kommen, schnell in ihre Wohnungen. Ansonsten hält sich hier kaum jemand länger im Freien auf.
"Sozialer Brennpunkt"
Vor einem der Hochhäuser wartet nur eine einsame Pensionistin auf ihren Mann. Sie stellt sich als Frau Müller vor. Sie wohne schon lange hier, fühle sich auch wohl, sagt die Frau. Aber sie merke schon, dass die Menschen hier unzufrieden seien.
Es sei eben ein "sozialer Brennpunkt". Es gebe viele Sozialwohnungen, Familien mit vielen Kindern, viele Bürgergeld-Empfänger:innen und "zu viele Asylanten", sagt sie auf die Frage, warum die AfD hier für Berliner Verhältnisse relativ stark sei.
Sie selbst halte es mit der in Teilen rechtsextremen Partei "50:50". Sie möge die rechte Szene nicht, verstehe es nicht, wenn der Nationalsozialismus verklärt werde. Aber es müsse sich eben was ändern. Eine Wahlentscheidung habe sie noch nicht getroffen.
Um Unentschlossene wie sie wird hier gut eine Woche vor der Wahl noch gekämpft. Ein Blick auf die Plakate vor Ort offenbart große Unterschiede zum Rest Berlins. Sogar der lokale CDU-Kandidat wirbt hier entgegen der Parteilinie gegen die Lieferung von deutschen Marschflugkörpern an die Ukraine. Auch Plakate von linken Kleinparteien sind stark verbreitet: Es geht um teure Mieten und teure Einkäufe.
Die AfD setzt auf Präsenz vor Ort. Erst eine Woche davor waren die Bundestagsabgeordneten Beatrix von Storch und Gottfried Curio am Vorplatz vor dem Einkaufszentrum. Auch wenn es Gegenprotest gab, seien hier mehr Menschen stolz drauf die AfD zu wählen. In anderen Bezirken sei das ein Tabu, sagt Maria Abramov. Sie arbeitet im Einkaufszentrum und wohnt auch in Marzahn.
Maria Abramov und Lisa Sarcan vor dem Einkaufszentrum in Berlin-Marzahn.
Für die Russland-Deutsche komme es nicht in Frage, die AfD zu wählen. Doch sie kenne auch Menschen mit Migrationsgeschichte, die mittlerweile für die in Teilen rechtsextreme Partei stimmen würden. "Auch die sehen sich als Deutsche jetzt und nehmen eine Extremhaltung ein", sagt sie.
'5 vor 12'
Doch mit dieser Entwicklung sind in der Bundeshauptstadt längst nicht alle einverstanden: Symbolisch um '5 vor 12' traf sich Berlins queere Community am Samstag vor dem verschneiten Reichstagsgelände, um vor dem Rechtsruck zu warnen und um zur Wahl aufzurufen.
"Wählt Liebe solange ihr noch könnt", war auf einem der Paradewagen zu lesen. Kommenden Sonntag gehe es nicht nur darum, die Rechte von Queeren zu verteidigen, sondern die liberale Demokratie, sagte ein Redner.
"Berlin gegen Nazis": Beim CSD wollte man ein Zeichen gegen den Rechtsruck setzen.
Als er mit der Rede startete, war es schon '20 nach 12'. Aber das passe eh noch besser zur politischen Situation in Deutschland. Die Brandmauer, also die Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der AfD, habe durch die gemeinsame Abstimmung der CDU Risse bekommen. "Aber wir bauen sie doppelt so stark wieder auf".
"Berlin gegen Nazis"
Nach einer Trauerminute für die Opfer des Anschlags in München ging es los. Laut Veranstalter:innen bis zu 15.000 Menschen, laut Polizei um die 6.000 zogen mit Regenbogenfahnen und zu lauter Musik durch die Berliner Innenstadt. Zu Rihannas "We found Love" oder "Danza kuduro" tanzten auch Anrainer:innen auf den Balkonen mit.
Beim CSD wurde ein Zeichen gegen Homophobie gesetzt.
Die Demonstration zog von Berlin-Mitte nach Schöneberg. Auf den teils selbst gebastelten Plakaten standen Sprüche wie "Wähle nicht Rechts aus Angst oder Wut", "Berlin gegen Nazis", "Küsschen für alle, aber nicht für die AfD" oder an den CDU-Kanzlerkandidaten gerichtet: "Herr Merz, so viel Schwachsinn geht sich auf einem Plakat nicht aus".
Wer sich unter den Teilnehmer:innen umhört, merkt, wie groß die Sorgen vor der anstehenden Wahl tatsächlich sind: Ein lesbisches Paar fürchtet um "die Sichtbarkeit". Sie müsse dann Angst haben, "Hand in Hand mit meiner Partnerin" durch die Stadt zu ziehen. Am CSD wolle man "laut" sein, um die "Nazis der AfD" wieder in den Hintergrund zu drängen.
Saxofonist:in fürchtet veraltete Familienbilder
"Es gibt Parteien, die wollen die Ehe für alle abschaffen. Es gibt Parteien, die sagen, dass die klassische Familie aus Mann und Frau besteht. Damit sind wir nicht einverstanden als queere Community", sagt eine Person, die mit ihrem Saxofon gekommen ist, um Stimmung zu machen.
Junger Demo-Teilnehmer fürchtet Situation wie in Österreich.
Ein junger Demo-Besucher zeigt sich auch angesichts der Entwicklung in Österreich besorgt: Das starke Abschneiden der FPÖ und die Koalitionsverhandlungen hätten ihm gezeigt, wie "bis dahin gültige Standards, was etablierte Parteien angeht, über den Haufen geworfen werden". Es sei "beunruhigend", wie viele Menschen scheinbar vorhaben, die AfD zu wählen.
Seine Begleitung bekräftigt: Man wolle jetzt vor der Wahl nochmal ein Zeichen für Menschenrechte und Toleranz setzen. Für die queere Community könnten Rechte, "die wir uns in den letzten Jahren erkämpf haben" wieder wegfallen. "Vielfalt ist keine Ideologie", heißt es in einer Rede, man könne queere Räume schließen oder das Gendern verbieten, aber die Vielfalt nicht.
Demo-Teilnehmer:in will Zeichen für Toleranz und Menschenrechte setzen.
"Das fängt klein an, ganz subtil und das kann ganz schlimme Auswirkungen haben", sagt ein Mann, er trägt eine blaue Perücke. Am Ende stehe dann eine Situation, "die wir vor 50 Jahren schon hatten".
"Berlin ist keine Wohlfühlzone", sagen diese Demo-Teilnehmer.
Seine Begleitung, blonde Perücke, Regenbogenfahne in die Haube gesteckt, fügt hinzu: Reden von bestimmten Politiker:innen würden jetzt schon dazu führen, dass es zu Angriffen auf queere Personen komme, dass die Leute zusammengeschlagen werden. Auch in der Hauptstadt: "Berlin ist keine Wohlfühlzone in allen Stadtbezirken", sagt er. Man sollte Berlin nicht auf Mitte oder Kreuzberg beschränken, verweist er etwa auf Neukölln oder Marzahn.
"Kulturschock"
Zurück zwischen den grauen Wohntürmen in Berlins zehntem Bezirk hat sich Lisa Sarcan zu Maria Abramov zum Rauchen in die Kälte vors Einkaufszentrum gesellt. Auch sie arbeitet hier, wohnt aber im Nachbarbezirk Lichterfelde.
Sie stammt aus einer türkischen Gastarbeiterfamilie und hat eine Erklärung für das starke Abschneiden der AfD in den Randbezirken. Viele hier seien ungebildet und unzufrieden, sagt sie. Es handle sich um eine "Frustwahl", sagt sie. Die Ampel hätte nicht alle ihre Versprechen gehalten. In Marzahn seien die Mieten billig, es wohnen viele Migrant:innen hier, sagt sie. Das sei für manch Älteren ein "Kulturschock".
Den "Konsequenzen" ihrer Wahl seien sie sich nicht bewusst, meint Lisa Sarcan. Denn die Wahl einer EU-feindlichen Partei könnte dazu führen, "dass alles noch teurer wird", meint sie. Die Unzufriedenheit würde nur noch weiter steigen.
Zusammenfassung
- Vielfältig, weltoffen, queer, Partymetropole. Dafür ist Berlin bekannt. Doch nicht nur in der LGBTIQ+-Community geht vor der anstehenden Bundestagswahl die Angst um.
- "Berlin ist keine Wohlfühlzone in allen Stadtbezirken", sagt ein Teilnehmer des Winter-CSD beim PULS 24 Lokalaugenschein.
- Das zeigt auch ein Besuch im Randbezirk Marzahn-Hellersdorf, wo die AfD schon Wahlen gewann.
- Die zwei Gesichter Berlins: