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Berg-Karabach: Armenier kapitulieren - "Massen-Exodus" und Angst vor Gewalt

Der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien in der Region Berg-Karabach ist militärisch entschieden. Als Nächstes wird mit einem "Massen-Exodus" aus dem Gebiet zu rechnen sein, allerdings ist die armenische Bevölkerung hier vom "Vermittler" Russland abhängig. Viele befürchten aber weiterhin Gewalt bis hin zum Genozid.

Einen Tag nach dem Einmarsch in Berg-Karabach haben die Truppen Aserbaidschans ihren Sieg erklärt. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev erklärte den militärischen Angriff dann am Mittwochabend für beendet. Aserbaidschan habe seine Souveränität über das Gebiet wiederhergestellt, sagte er am Mittwoch in einer Fernsehansprache in Baku. 

Am Dienstag hatte Aserbaidschan seine Invasion von Berg-Karabach gestartet. Dabei wurden 27 Menschen getötet, darunter zwei Zivilisten, Hunderte weitere wurden verletzt.

Völkerrechtlich gehört die Grenz-Region im Süd-Kaukasus zu Aserbaidschan, bewohnt wird sie überwiegend von Armeniern und Armenierinnen. Seit 2017 nennt sich die Region "Republik Arzach". 120.000 Menschen leben in dem Gebiet, laut der Nachrichten-Agentur "Reuters" sind 100.000 davon armenische Staatsangehörige. Aserbaidschan spricht von einer weitaus niedrigeren armenischen Bevölkerung in dem Gebiet.

Die Journalistin und Expertin für Armenien und den Berg-Karabach-Konflikt Anna Aridzanjan sieht 70.000 bis 100.000 Menschen als realistisch an. Viele Armenier:innen seien in den Auseinandersetzungen 2020 gestorben oder hätten seitdem das Gebiet verlassen.

Die armenische Führung der Region hat am Waffenstillstand zugestimmt, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Die Waffenruhe wird halten, schätzt Aridzanjan, denn Aserbaidschan habe mit der Kapitulation der armenischen Führung erreicht, was es wollte. 

Berg-Karabach Konflikt September 2023 KarteQuelle: APA / BBC / LIVEUAMAP

Berg-Karabach Konflikt September 2023 Karte

"Massen-Exodus", aber kein Ausweg aus Region

Aridzanjan geht davon aus, dass es in den kommenden Tagen zu einem Massen-Exodus kommen wird. Die Bevölkerung Berg-Karabachs wird fliehen, der von Aserbaidschan kontrollierte Latschin-Korridor sei aber noch immer nicht frei. Laut ihren Informationen können Zivilisten nicht aus der Region ausreisen.

Deshalb flüchten die Armenier:innen nun zum Stützpunkt der russischen Friedenstruppen in Stepanakert, dem Zentrum der Region. "Frieden" ist bei diesen Truppen unter Anführungszeichen zu sehen, sagt sie.

Ohne Wasser, Essen und Perspektive

Zwischen 10.000 und 40.000 Zivilist:innen fliehen aktuell zu dem Stützpunkt der russischen Friedenstruppen, so Aridzanjan. Jeder andere Ort in Berg-Karabachs sei unter Kontrolle Aserbaidschans, an dem russischen Stützpunkt warten die Zivilist:innen trotzdem ohne Wasser, Essen und Perspektive.

Die Menschen würden jetzt auf die Russen hoffen, sie wüssten, dass es in der Region unter der Führung Aserbaidschans keine Zukunft für sie gibt. "Das ist ein Todesurteil", so Aridzanjan.

Auflösung der armenischen Truppen in der Region

Laut Aserbaidschans Verteidigungsministerium haben die armenischen Truppen der Region zugestimmt, ihre Waffen niederzulegen, Militärpositionen aufzugeben, sich zu entwaffnen, das Territorium zu verlassen und auch die "illegalen" bewaffneten Truppen aufzulösen.

Armenien betont wiederum, die Bewaffneten seien keine armenischen Soldaten, sondern Teil der selbsternannten "Republik Arzach".

Die armenische Führung der Region kritisiert in seiner Aussendung die mangelnde Hilfe der internationalen Gemeinschaft, auch deshalb sei der Waffenstillstand, verhandelt durch die russischen Friedenstruppen, angenommen worden.

Angst vor Genozid

Für die rund 100.000 armenischen Bewohner:innen der Region stellt sich nun die Frage, wie es weitergeht. Seit Anfang 2023 kontrolliert Aserbaidschan den Latschin-Korridor zur Region und erzwang damit eine Hungersnot in der Region.

Aserbaidschan bietet den Bewohner:innen laut eigener Aussage Rechte und Sicherheit an, wenn sie die eigene Staatsbürgerschaft annehmen. Armenien wirft Aserbaidschan vor, bewusst Wohngebiete zu beschießen, dort bestreitet man das. Bis zur Waffenruhe gab es heftige Kämpfe, Augenzeugen berichten von großer Angst um ihr Leben.

"Nach neun Monaten Hunger sind wir nun in einem Bomben-Schutzbunker - wir schlafen neben Kindern, die gestern noch von Brot geträumt und sich jetzt wünschen, morgen wieder aufzuwachen. Ich weiß nicht, ob wir aufwachen werden, aber ich hoffe, ihr werdet euch daran erinnern, dass wir gegen diesen Genozid mit Ehre Widerstand geleistet haben", schreibt die freie Journalistin Siranush Sargsyan auf Twitter (inzwischen "X").

Freie Hand für Aserbaidschans Truppen

Lokale Beobachter und Journalisten warnen nun vor "ethnischer Säuberung", einem Genozid durch die Truppen Aserbaidschans. Im Gespräch mit PULS 24 hat Osteuropa-Experte Hannes Meißner am Wochenende dieses Szenario als sehr unwahrscheinlich bewertet. Aserbaidschan - eine autoritäre Diktatur - möchte als Rechtsstaat wahrgenommen werden, so der Experte.

Das war allerdings noch vor Beginn der Invasion. Gerade deshalb besteht die Angst vor einem Völkermord. Vor allem der Genozid im bosnischen Srebrenica wird online mit den Ereignissen in Berg-Karabach verglichen. Auch damals habe die UN versagt, so der Tenor. Und die Vorgehensweisen ähneln einander.

Journalistin Aridzanjan versteht die Angst, denn in Armenien gebe es durchaus schon Erfahrungen mit Genoziden. Ihrer Einschätzung nach sind aktuell alle "Forderungen" Aserbaidschans erfüllt, an dem Punkt eines Massakers sei die Situation in Berg-Karabach aktuell noch nicht. 

"Das wird dann erst der Fall sein, wenn der aserbaidschanischen Führung die Massenflucht von Armenien nicht schnell genug geht, oder, dass sich doch Widerstand bildet."

Am 21. September begeht Armenien eigentlich seinen Unabhängigkeitstag. Toumaj Fara erzählt PULS 24 von der Lage vor Ort. Die Leute hätten morgen nichts zu feiern. Auch er berichtet von der Angst, dass Aserbaidschan Armenien komplett "einnehmen" wolle. 

In Armenien zu leben, sei "ein Dauertrauma", erklärt er. Es gebe ein historisches Trauma vom Genozid im Jahr 1915, bei dem 600.000 bis 1,5 Millionen Armenier:innen umgebracht wurden. "Die Großmächte schauen alle weg", schildert Fara das Empfinden im Land. Das Trauma "sitzt schon ein bisschen in der DNA".

"Sanktionen helfen auch nicht mehr"

International habe es bis es nur Bekundungen über Sorge und Aufforderungen zur Beendigung gegeben. Die Taten würden fehlen, und das sei fatal für die Zivilbevölkerung. Der Vorsitzende des deutschen Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD) habe erst am Dienstag in einem Interview davon gesprochen, dass zum Beispiel Deutschland die sich anbahnende Eskalation in Berg-Karabach einfach nicht ernst genommen hatte. 

Für wirtschaftliche Sanktionen mit Aserbaidschan sei es zu spät, so Ardizanjan, "das hätte vor drei Jahren passieren müssen. Da helfen Sanktionen auch nicht mehr". 

Langfristig will Aserbaidschan ganz Armenien in sein Staatsgebiet integrieren, denkt die Journalistin. Aserbaidschans Präsident, Ilham Alijew, habe in der Vergangenheit kein Geheimnis daraus gemacht, dass er Armenien als "West-Aserbaidschan" sieht. Bisher habe Alijew all seine Ankündigungen durchgezogen, deshalb solle man auch diese Ansage ernst nehmen, so Ardizanjan.

Anhaltender Konflikt

Ab 1921 war das umstrittene und umkämpfte Gebiet als unabhängiger Oblast Berg-Karabach Teil der Sowjetunion. In der Vergangenheit kochte der Konflikt 1994, nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991, und im Jahr 2020 hoch. Nach 1994 wurde das Gebiet überwiegend von Armenien kontrolliert, seit 2020 hatte Aserbaidschan die Überhand.

In der Antike war das Gebiet durch Armenier bevölkert, das Christentum war ab dem 4. Jahrhundert die dominante Religion in dem Gebiet. Das antike Armenien war der erste Staat der Welt, der das Christentum - noch vor dem Römischen Reich - zur Staatsreligion erhob.

Davon zeugen auch diverse uralte Klöster in der Region. Auch hier gibt es Berichte von Einnahmen durch Aserbaidschan und die Befürchtung, dass Kulturdenkmäler zerstört werden könnten, um alle armenischen Spuren auszulöschen. 

ribbon Zusammenfassung
  • Der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien in der Region Berg-Karabach ist eskaliert.
  • Armenische Zivilisten wurden von den Militär-Truppen Aserbaidschans getötet.
  • Aktuell herrscht Waffenruhe, in der armenischen Bevölkerung in der Region und auch unter Beobachtern herrscht große Angst vor einer weiteren Eskalation der Situation.
  • Als Nächstes wird mit einem "Massen-Exodus" aus dem Gebiet zu rechnen sein.
  • Allerdings ist die armenische Bevölkerung hier vom "Vermittler" Russland abhängig.