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Angriff auf Berg-Karabach: Angst vor ethnischer Säuberung

Aserbaidschan hat am Dienstag Angriffe in der seit Jahren umstrittenen Region Berg-Karabach gestartet. Videos, die in den sozialen Medien kursieren, zeigen zerstörte zivile Gebäude. Ein EU-Kommissionssprecher warnt Baku: "Dies sollte kein Vorwand sein, um die lokale Bevölkerung zum Exodus zu zwingen".

Wie schon länger befürchtet, hat Aserbaidschan am Dienstag mit dem Beschuss der Region Berg-Karabach einen Angriff gestartet. Die Einsätze richteten sich gegen armenische Kräfte, teilte das Verteidigungsministerium in Baku mit. Das Ministerium spricht von einer "Anti-Terror-Operation". Das "Separatistenregime" in Berg-Karabach müsse aufgelöst werden.

Proteste in Jerewan

Die in Armenien ansässige Vertretung Berg-Karabachs sprach hingegen von einer "groß angelegten Militäroffensive". Das armenische Verteidigungsministerium erklärte, man habe keine Kräfte in Berg-Karabach und rief Russland und den UN-Sicherheitsrat um Hilfe.

Der armenische Premier Nikol Paschinjan erklärte, er wolle keine armenischen Truppen an dem Konflikt beteiligen, man wolle keine "drastischen Aktionen" setzen. Das führt mittlerweile zu Protesten der armenischen Bevölkerung vor Regierungsgebäuden in Jerewan

Mehrere Städte Berg-Karabachs seien nach Angaben örtlicher Behördenvertreter von Aserbaidschan angegriffen worden. Laut Angaben von vor Ort seien dabei Zivilisten getötet und verletzt worden.

Am ersten Tag des Militäreinsatzes starben schon mehr als zwei Dutzend Menschen. Der Menschenrechtsbeauftragte der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach, Gegam Stepanjan, sprach von mindestens 27 Toten. Darunter seien mindestens sieben Zivilisten - darunter zwei Kinder.

Darüber hinaus seien in der Konfliktregion mehr als 200 Menschen verletzt worden, erklärte Stepanjan am Dienstagabend auf Twitter.

Angriffe auf zivile Gebäude

Videos aus Stepanakert, der Hauptstadt der umstrittenen Region Berg-Karabach, zeigen einen Angriff auf zivile Gebäude. Es sei kein militärisches Ziel in der Nähe gewesen, berichtet die freie Journalistin Siranush Sargsyan. 

Davor kursierten Videos, in welchen Luftalarm und auch mutmaßliche Einschläge zu hören sind. 

Das christlich-orthodoxe Armenien und das muslimische Aserbaidschan, beides Ex-Sowjetrepubliken, sind seit langem verfeindet. Noch zu Sowjetzeiten wurde das zwar mehrheitlich von Armenier:innen, aber auch von Aserbaidschaner:innen bewohnte Gebiet Berg-Karabach Aserbaidschan zugesprochen.

Auf beiden Seiten kam es immer wieder zu Pogromen, Verfolgungen, Fluchtbewegungen. 1991 erklärte sich Berg-Karabach selbst zur unabhängigen Republik, was international bis heute nicht anerkannt wird. Ein Krieg im Jahr 1994 endete mit einem Waffenstillstand, der von Russland überwacht wurde.

Russland ließ Armenien im Stich

In einem zweiten Krieg 2020 siegte das mit Geld aus dem Öl- und Gasgeschäft hochgerüstete Aserbaidschan und eroberte Teile von Berg-Karabach und eigenes Territorium zurück. In kürzeren Militäraktionen danach besetzte Baku auch etwa 150 Quadratkilometer armenisches Staatsgebiet. Im Zuge des Krieges kam es auch zu Kriegsverbrechen durch aserbaidschanische Soldaten. Videos von geköpften armenischen Soldaten kursierten auf Social Media.

In den vergangenen 9 Monaten blockierte Aserbaidschan die Lieferung von Hilfslieferungen mit Lebensmitteln und Medikamenten in die Region. Baku ist es gelungen, Russland von der alleinigen Unterstützung Armeniens wegzubewegen, wie Politikwissenschaftler Hannes Meissner kürzlich im PULS 24 Interview erklärte.

Mehr zu den Hintergründen:

Meissner befürchtete schon damals, dass die mehrheitlich armenische Bevölkerung Berg-Karabachs bei einem Angriff, wenn sie nicht vertrieben werden würde, aus Angst vor Übergriffen durch aserbaidschanische Truppen fliehen würde.

Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium hat mitgeteilt, dass ein Zufahrtskorridor zu Berg-Karabach offen bleiben wird: jener nach Armenien. Es geht also um gewaltsame Vertreibung der Bevölkerung bzw. eine ethnische Säuberung der Region

Elchin Amirbeyov, aserbaidschanischer Diplomat und Vertreter von Machthaber Ilham Alijew bei Sonderaufgaben, wurde von "DW News" vor fast zwei Wochen auf Genozid-Vorwürfe angesprochen. Er meinte, dass ein solcher passieren könnte, wenn "die Clique der Separatisten weiter ihre eigene Bevölkerung als Geiseln hält, um ihre politischen Ziele zu erreichen". 

Warnung vor erzwungenem "Exodus", Österreich "alarmiert"

Der Sprecher der EU-Kommission, Peter Stano, richtete am Dienstag eine Warnung in Richtung Aserbaidschan: "Dies sollte kein Vorwand sein, um die lokale Bevölkerung zum Exodus zu zwingen", schrieb er auf Twitter (nunmehr "X"). Das österreichische Außenministerium teilte den Beitrag und zeigte sich "extrem alarmiert". 

EU-Chefdiplomat Josep Borrell verurteilte in einem Statement die militärische Eskalation. Er forderte die "sofortige Einstellung der Feindseligkeiten" und appellierte an Aserbaidschan, die militärischen Aktivitäten zu beenden. Die EU setze sich weiterhin für einen Dialog ein, so Borrell.

EU setzt auf Gas aus Baku

Für viele ist die EU in dem Konflikt aber nicht mehr sehr glaubwürdig: Gas aus Aserbaidschan steht seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in der EU hoch im Kurs. 

Im vergangenen Jahr reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Baku, um beim Autokraten Ilham Alijew eine Absichtserklärung für mehr Gaslieferungen zu unterzeichnen.

Zuvor kamen mehr als acht Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr aus Aserbaidschan in die EU. Bis 2027 sollten es 20 Milliarden werden. "Aserbaidschan ist für Deutschland und die Europäische Union ein Partner von wachsender Bedeutung", sagte etwa der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte März 2023 in Berlin. 

ribbon Zusammenfassung
  • Wie schon länger befürchtet, hat Aserbaidschan am Dienstag mit dem Beschuss der Region Berg-Karabach einen Angriff gestartet. 
  • Videos, die in den sozialen Medien kursieren, zeigen zerstörte zivile Gebäude. Es soll Tote und Verletzte geben, darunter auch Kinder.
  • Ein EU-Kommissionssprecher warnt Baku: "Dies sollte kein Vorwand sein, um die lokale Bevölkerung zum Exodus zu zwingen".
  • Für viele ist die EU in dem Konflikt aber nicht mehr sehr glaubwürdig: Gas aus Aserbaidschan steht seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in der EU hoch im Kurs.