Lachin-KorridorKaren MINASYAN / AFP

Gas und Waffen: Was Aserbaidschan im Kampf um Bergkarabach so stark macht

Ein jahrzehntealter Konflikt spitze sich in den letzten Wochen wieder zu. Aserbaidschanische Truppen umstellten Bergkarabach und kontrollieren den Latschin-Korridor. Eine Hungersnot brach aus, Medikamente wurden knapp. Aserbaidschan scheint in dem Konflikt, der so bald wohl kein Ende nimmt, der Stärkere zu sein. Aber warum eigentlich? Experte Hannes Meißner im PULS 24 Interview.

Rund 120.000 Einwohner:innen hat die abtrünnige Region Bergkarabach, übersetzt der "gebirgige schwarze Garten", um die die verfeindeten Nachbarstaaten Aserbaidschan und Armenien seit Jahrzehnten, wenn nicht noch länger, streiten. Ihre Situation spitzte sich in den letzten Wochen dramatisch zu.

Die Supermärkte wurden beängstigend leer, Brot war nur gegen Bezugsscheine erhältlich, Medikamente wurden knapp. Die medizinische Versorgung war kaum noch möglich. Die Gefahr eines erneuten Kriegs ist immer noch nicht gebannt.

Karte Armenien und Aserbaidschan, Konfliktgebiet.APA

Die selbsternannte Republik Bergkarabach im Südkaukasus liegt inmitten des Staatsgebiets von Aserbaidschan, zu dem er völkerrechtlich, laut UN-Ansicht, auch gehört. Bewohnt wird er mittlerweile aber fast ausschließlich von ethnischen Armenier:innen. Die einzige Verbindung nach Armenien, über die die Region sonst hauptsächlich versorgt wird, führt über den Latschin-Korridor (Bild oben). Und den hat Aserbaidschan vor einigen Monaten unter seine Kontrolle gerissen und Hilfslieferungen blockiert. 

Die Lokalregierung von Bergkarabach weigerte sich lange, eine Versorgung von der Seite Aserbaidschans zuzulassen. Man fürchtete, mit Hilfslieferungen könnten Truppen in die Region gelangen und dass man von Baku abhängig sein würde. 

Erste Lieferungen erfolgt

Erst am Sonntag soll man sich dann angesichts der drohenden Katastrophe darauf geeinigt haben, humanitäre Transporte der russischen Friedenstruppen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz durch den Latschin-Korridor zu lassen. Gleichzeitig sollen auch Hilfslieferungen aus Aserbaidschan erfolgen. "Deutschlandfunk" meldete am Mittwoch erste Lieferungen - weitere Fortschritte sind derzeit nur schwer zu bestätigen. Erst am Donnerstag meldete Armenien wieder einen großen Aufmarsch aserbaidschanischer Truppen an seinen Grenzen. 

Eine der weniger Hilfslieferungen, die im August möglich war.Karen MINASYAN / AFP

Eine der weniger Hilfslieferungen, die im August möglich war.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich der schwelende Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die "Republik Arzach", wie sich Bergkarabach selbst nennt, zuspitzt. Noch zu Sowjetzeiten wurde das zwar mehrheitlich von Armenier:innen, aber auch von Aserbaidschaner:innen bewohnte Gebiet Aserbaidschan zugesprochen. Auf beiden Seiten kam es immer wieder zu Pogromen, Verfolgungen, Fluchtbewegungen. 1991 erklärte sich Bergkarabach selbst zur unabhängigen Republik, was international bis heute nicht anerkannt wird. 

Rolle Russlands begann zu bröckeln

Anfang der 90er-Jahre kam es zum Krieg, der 1994 in einem Waffenstillstand mündete. "Die armenische Armee hat hier einen De-facto-Staat errichtet, einen Staat mit einer Regierung, mit allen Staatsfunktionen", sagt Hannes Meißner, politischer Risikoanalyst am Kompetenzzentrum für Schwarzmeerraumstudien der Fachhochschule des BFI Wien und Lehrbeauftragter für Osteuropa an der Uni Wien, im Gespräch mit PULS 24. Zusätzlich besetzte man Gebiete um Bergkarabach und errichtete die Landverbindung nach Armenien. Hunderttausende Aserbaidschaner:innen wurden vertrieben.

Ein leerer SupermarktDavit GHAHRAMANYAN / AFP

Russland übernahm auf der Seite Armeniens die Rolle einer Schutzmacht, als die sie eigentlich bis heute gilt. Doch diese Rolle Russlands beginnt zu bröckeln.  Im Herbst 2020 eroberten aserbaidschanische Truppen Gebiete zurück - nur der Latschin-Korridor blieb.

Russland ließ das bis zu diesem Punkt zu und übernahm die Kontrolle des Korridors. Die im April erfolgte Blockade Aserbaidschans, die man zunächst als Umweltprotest tarnte, konnte oder wollte Moskau nicht verhindern

In Armenien herrscht nun "große Enttäuschung" gegenüber der langjährigen Schutzmacht, wie Meißner schildert. Wohl auch deswegen startete Armenien am Montag im Kaukasus ein kleines Militärmanöver mit den USA, das bis 20. September dauern soll.

Jerewan, das im Gegensatz zu Aserbaidschan Mitglied von Moskaus Militärpakt, der "Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit" (OVKS) und der "Eurasischen Wirtschaftsunion" (EEU) ist, schickte erstmals eine Hilfslieferung an die Ukraine. Die Ehefrau des armenischen Premierministers Nikol Paschinjan traf in Kiew die Frau von Wolodymyr Selenskyj. Armeniens Parlament wird außerdem das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ratifizieren. Alles sehr zum Ärger Moskaus. 

Weniger Russlands Schwäche als Aserbaidschans Stärke

In manchen Kommentaren war zu lesen, dass Aserbaidschan die aktuelle Schwäche Moskaus ausnütze. Meißner spricht im PULS 24 Gespräch hingegen weniger von einer Schwäche Moskaus als von der "Stärke Aserbaidschans". Selbst die EU und die USA, die sich zuletzt im Konflikt zwischen den beiden Kaukasus-Staaten als Vermittler anboten, kommen um Aserbaidschans autoritären Herrscher Ilham Alijew nicht herum. Vor allem der EU seien bis zu einem gewissen Grad "die Hände gebunden", so Meißner. 

Zuletzt unterzeichnete Ursula von der Leyen ein Gasabkommen zwischen Aserbaidschan und der EU. Deutschlands Kanzler Olaf Scholz traf Machthaber Ilham Alijew und sprach ebenfalls über Gaslieferungen - einen "verlässlichen Partner" wollte er in Baku gefunden haben. Seine Öl- und Gas-Ressourcen und eine geschickte "Schaukelpolitik" führten Aserbaidschan zu seiner jetzigen Stärke, die vorläufig in der Blockade endete - und in Armenien für so viel Angst sorgt.

Von einer langfristigen Lösung des Konflikts sei man noch weit weg, sagt Meißner. Auch, weil Russland Interesse an eingefrorenen Konflikten hat. Der Leidtragende ist die lokale Bevölkerung. Und selbst der am Tisch liegende Friedensplan würde wohl eine große Fluchtbewegung auslösen. 

Hannes MeißnerHannes Meißner / FH BFI Wien

Politikwissenschaftler Hannes Meißner

Politikwissenschaftler Hannes Meißner im PULS 24 Interview

PULS 24: Hilfslieferungen nach Bergkarabach wurden scheinbar wieder zugelassen. Ist alles wieder gut?

Meißner: Wir sind einen ganz kleinen Schritt gegangen im Hinblick auf die Milderung einer humanitären Katastrophe, die sich in den letzten Wochen und Monaten zugespitzt hat. Von einer dauerhaften Lösung dieses seit Jahrzehnten schwelenden, immer wieder blutig ausgebrochenen Bergkarabach-Konflikts, sind wir noch weit weg. 

Woran scheitert es?

Der durch den Westen geförderte Friedensplan wird offiziell auch von Russland, von der armenischen Regierung in Jerewan, vom armenischen Premierminister Nikol Paschinjan, der aserbaidschanischen Regierung und dem Präsidenten Ilham Alijew unterstützt. Der Plan sieht letztendlich die Wiedereingliederung Bergkarabachs in das Territorium Aserbaidschans vor - unter Wahrung und Garantie der Minderheitenrechte der verbliebenen Armenier.

Allerdings: Dem widersetzt sich die lokale Regierung Bergkarabachs und inoffiziell hat auch Russland auf verdeckter Ebene ein sehr starkes Interesse daran, den Konflikt nicht dauerhaft zu lösen, sondern die jetzige Konstellation wieder einzufrieren. Und da stehen wir letztendlich. 

Wir sehen eine Möglichkeit einer Konfliktlösung, die wir so in dieser Form noch nie gesehen haben

Meißner

Aber Armenien und Aserbaidschan würden beide zustimmen?

Wir sehen eine Möglichkeit einer Konfliktlösung, die wir so in dieser Form noch nie gesehen haben: Nämlich, dass sowohl die armenische als auch die aserbaidschanische Regierung bereit sind, für diesen Friedensplan zu stimmen. Die Frage ist natürlich, wie lange sich die Reformbewegung unter Nikol Paschinjan in Armenien, ob des 'Verstoßes gegen armenische Interessen', den viele in der Bevölkerung vorwerfen, an der Macht halten kann.

Da kann ich nur betonen: Die Regierung ist stabiler, als es auf den ersten Blick erscheinen würde - die Bevölkerung ist in der Mehrheit wohl fatalistisch. Die weitere Entwicklung hängt nun vor allem an der Haltung der lokalen Regierung in Bergkarabach und auch an den verdeckten Einflussmöglichkeiten Russlands.

Was fürchtet die lokale Regierung?

Der lokalen Regierung geht es natürlich auch um Machterhalt. Es geht hier um sozioökonomische, materielle Vorteile der lokalen Elite, der herrschenden Klasse. Die würde ja entmachtet werden. Es gäbe keine Republik Karabach mehr. 

Primär gibt es aber die große Befürchtung der lokalen Regierung, der lokalen Bevölkerung, aber auch der Bevölkerung in Armenien, dass sie, wenn sie nicht vertrieben werden würde, zumindest fliehen würde aus Angst vor lokaler Selbstjustiz oder Übergriffen aserbaidschanischer Streitkräfte. Man darf nicht vergessen, dass auf beiden Seiten in den letzten 30 Jahren massiv Hass gesät wurde, und dass dieses Territorium eine wichtige historische Rolle in der Identität der Armenier spielt.

Dass hier ein Genozid geplant ist, ein zentral gesteuerter durch Aserbaidschan, das würde ich sehr, sehr bezweifeln.

Meißner

In Armenien grassiert die Angst vor einem geplanten Genozid.

Dass hier ein Genozid geplant ist, ein zentral gesteuerter durch Aserbaidschan, das würde ich sehr, sehr bezweifeln. Wir sprechen hier von Völkermord. Aserbaidschan möchte sich als moderner Rechtsstaat präsentieren. Auch wenn es kein funktionierender Rechtsstaat ist - man pflegt dieses Image international. 

Armenien hat einen solchen Völkermord seitens des Osmanischen Reichs erlebt, der ist ins kollektive Bewusstsein eingegangen. Und dieser Begriff, die Erinnerungspolitik, trägt sehr stark auch das öffentliche Bewusstsein in Armenien und damit auch die Interpretation aktueller Geschehnisse in dem Konflikt. Auch in den letzten 30, 40 Jahren ist viel Unrecht, viel Leid geschehen, aber auf beiden Seiten. Auf beiden Seiten haben Pogrome stattgefunden.

Was bezweckt Aserbaidschan dann mit einer solchen Blockade von Lebensmitteln und Medikamenten?

Man möchte natürlich die eigene Stärke ausspielen, weil man das Territorium umschlossen hat und man möchte damit zeigen: 'Es liegt alles an der lokalen Regierung Bergkarabachs, wir würden eh von Aserbaidschan aus Hilfslieferungen zulassen'. Es ist eine Machtdemonstration und diese Macht und Stärke besteht tatsächlich. Das Schlimme ist, dass letztendlich die lokale Bevölkerung der Leidtragende ist und hier tatsächlich eine humanitäre Katastrophe aufgetreten ist. 

Woher kommt die Stärke Aserbaidschans? 

Das ist der entscheidende Hintergrund: Bis 2020 ist es Aserbaidschan gelungen, Russland und weitere internationale Partner auf die eigene Seite zu holen. Das ist durch eine Schaukelaußenpolitik gelungen. Hinzu kommen Waffenkäufe aus der Türkei und Israel. Da kommt ins Spiel, dass Aserbaidschan im Gegensatz zu Armenien ein extrem ressourcenreicher Staat ist, über hohe Gas- und Öl-Einkünfte verfügt. Das hat dem Staat international diplomatische Stärke gegeben und die Möglichkeit, aufzurüsten und moderne Waffentechnologien zu kaufen.

Aserbaidschan hat eine größere Geldsumme an Russland fließen lassen

Meißner

Russland galt traditionell als Armeniens Schutzmacht, jetzt macht Armenien eine Militärübung mit den USA.

Aserbaidschan ist es gelungen, Russland ein Stück weit von Armenien wegzuziehen und Russland zu einer neutralen Position zwischen beiden Ländern zu bewegen. Und - das ist durch meine gut informierten Quellen vor Ort bestätigt - Aserbaidschan hat eine größere Geldsumme an Russland fließen lassen, um das O.K. für den Feldzug 2020 zu kriegen. 

Es ist auf armenischer Seite eine große Enttäuschung zu beobachten. Armenien ist sozioökonomisch, politisch, sicherheitspolitisch isoliert. Der zentrale Pfeiler der nationalen Sicherheitsstrategie war die Unterstützung durch Russland. Deswegen wendet man sich jetzt den USA zu für eine kleine Militärübung. Es ist ein kleiner, symbolischer Akt mit durchaus aber großer Sprengkraft aufgrund der geopolitischen Gesamtkonstellation.

Hinzu kommt auch, dass Niko Paschinjan vom Gedankengut eine gewisse Nähe zum Westen pflegen würde, wenn er könnte. Nur Armenien ist ein schwaches Glied und kann sich das nicht leisten, komplett aus dem russischen Einflussbereich auszubrechen. Sozial nicht, ökonomisch nicht und nicht politisch. Paschinjan muss vorsichtig sein, Russland nicht komplett zu verprellen.

Die Geschehnisse stehen zuallererst im Zeichen der Stärke Aserbaidschans.

Meißner

Also Aserbaidschan nutzt nicht gerade eine Schwäche Russlands während des Kriegs gegen die Ukraine?

Die Geschehnisse stehen zuallererst im Zeichen der Stärke Aserbaidschans. Diese ist das Ergebnis einer durchaus geschickten Energie- und Außenpolitik. Die allgemeine Wahrnehmung ist, dass Russland die Streitkräfte in der Ukraine gebunden hat, sich keinen weiteren Konflikt leisten kann, dass Russland dadurch die Kontrolle über den Hinterhof verliert. Das ist meiner Meinung nach - und das muss ich wirklich hervorheben - eine zu einfache Erklärung. Es spielt auch eine Rolle, ist aber nicht der Hauptfaktor. Es ist zu betonen: Die jetzige Konstellation und auch die Tatsache, dass Russland im Südkaukasus in die Defensive geraten ist, ist auf die Stärke Aserbaidschans zurückzuführen. Und diese Stärke wurde lange vor dem Ukraine-Krieg  - 2020 - ein erstes Mal militärisch ausgespielt.

Welche Interessen verfolgt Russland?

Russland versucht - und gerade jetzt unter Putin einmal mehr - den gesamten postsowjetischen Raum im Einflussbereich zu behalten und die Strategie, Territorialkonflikte dafür zu nutzen, gibt es seit den 1990er Jahren. Immer, wenn ein Land versucht, aus dem Einflussbereich ausbrechen -  das war in der Ukraine zuletzt 2014/15 der Fall - werden Territorialkonflikte getriggert und eingefroren. Das macht einfach eine Annäherung an die EU und insbesondere an die NATO äußerst unwahrscheinlich bzw. verunmöglicht es in Wahrheit.

Natürlich hat Aserbaidschan die Öl- und Gas-Einkünfte auch benutzt, um das Militär aufzurüsten

Meißner

Österreichs Gas-Zahlungen an Russland wurden zuletzt als "Blutgeld" bezeichnet. Gehen die nächsten "Blutgeld"-Zahlungen an Aserbaidschan?

Solche Begriffe sind plakative Schlagworte für komplexere Zusammenhänge. Die Sichtweise ist: Russland finanziert seinen Krieg gegen die Ukraine mit internationalen Rohstoffverkäufen. Das ist auch richtig. Daher der Begriff 'Blutgeld'. In Aserbaidschan finanzieren die Deviseneinkünfte zunächst einmal ein autoritäres Regime, das demokratische Prinzipien und Menschenrechte verletzt. Natürlich hat Aserbaidschan die Öl- und Gas-Einkünfte auch benutzt, um das Militär aufzurüsten und um sich international Unterstützung zu kaufen. Also diese Zusammenhänge gibt es tatsächlich, obwohl ich diese Begriffe als Wissenschaftler nicht gern habe.

Die Frage ist halt am Ende: Welche Länder weltweit sind Demokratien und Rechtsstaaten und verfügen gleichzeitig über hohe Ressourcenvorkommen? Da es davon viel zu wenige gibt, kann über diese der Energiehunger der Industrieländer bei Weitem nicht gestillt werden. Die westliche Welt ist somit abhängig von autoritären Staaten, die zum Teil auch Kriege führen. Ein Hoffnungsträger ist die grüne Revolution mit Solarenergie, die uns von diesen Staaten in Zukunft vielleicht ein wenig unabhängiger macht.

ribbon Zusammenfassung
  • Ein jahrzehntealter Konflikt spitze sich in den letzten Wochen wieder zu.
  • Aserbaidschanische Truppen umstellten Bergkarabach und kontrollieren den Latschin-Korridor.
  • Eine Hungersnot brach aus, Medikamente wurden knapp. Aserbaidschan scheint in dem Konflikt, der so bald wohl kein Ende nimmt, der Stärkere zu sein.
  • Das liegt vor allem an Aserbaidschans geschickten Schaukelaußenpolitik, an Gas- und Öl-Verkäufen, sagt Politikwissenschaftler Hannes Meißner im PULS 24 Interview.