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Bandengewalt stürzt Haiti ins Chaos

Anhaltende schwere Bandengewalt hat in Haiti den Druck auf den im Ausland gestrandeten Regierungschef Ariel Henry erhöht und die humanitäre Krise weiter verschärft. Das US-Militär flog am Wochenende Mitarbeiter der US-Botschaft aus und verstärkte dort die Sicherheitsvorkehrungen, wie das Regionalkommando Southcom am Sonntag mitteilte. Auch Deutschlands Botschafter reiste am Sonntag gemeinsam mit Entsandten der EU-Delegation ins Nachbarland Dominikanische Republik aus.

Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin begründete dies gegenüber der Deutschen Presse-Agentur mit "der sehr angespannten Sicherheitslage". Österreich hat in Haiti keine Botschaft, wie eine Sprecherin des Außenministeriums der APA am Sonntagabend mitteilte, sondern werde von der Botschaft in Kuba mitbetreut. Die Gewalt der mächtigen Banden, die die Interimsregierung von Premierminister Henry stürzen wollen, legt große Teile Haitis seit rund zehn Tagen lahm.

Alle Flüge fielen seit Tagen aus. Am Freitagabend (Ortszeit) wurde nach Medienberichten um den Präsidentenpalast heftig geschossen. Der Präsident der Dominikanischen Republik, Luis Abinader, erklärte Henry am Samstag zur unerwünschten Person. Aus Sicherheitsgründen sei dieser nicht willkommen, teilte Abinaders Büro mit. Die Krise in Haiti stelle auch eine direkte Bedrohung der Stabilität und Sicherheit der Dominikanischen Republik dar. Das bei Urlaubern beliebte Land teilt sich die Karibikinsel Hispaniola mit Haiti, dem ärmsten Land des amerikanischen Kontinents.

Ende Februar war in Haiti, wo Banden laut UNO bereits etwa 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince kontrollierten, die Gewalt eskaliert. Henry war zu der Zeit auf einer Auslandsreise, unter anderem in Kenia - dem Land, das eine vom UNO-Sicherheitsrat genehmigte Sicherheitsmission in Haiti anführen soll. Seither kehrte er offenbar wegen der Sicherheitslage nicht nach Haiti zurück. Am Dienstag reiste Henry nach Puerto Rico, nachdem ihm die Dominikanische Republik keine Landeerlaubnis erteilt hatte. Beide internationale Flughäfen in Haiti sind wegen der Gewalt geschlossen.

Die zwei wichtigsten bewaffneten Gruppen des Landes hatten sich zusammengeschlossen. Ihr Anführer, der Ex-Polizist Jimmy Chérizier alias "Barbecue", forderte Henry zum Rücktritt auf - andernfalls werde es zu einem Bürgerkrieg kommen. Die Banden befreiten mehr als 4.500 Häftlinge aus zwei Gefängnissen und griffen unter anderem Einrichtungen der Polizei und Flughäfen an. Am Hafen von Port-au-Prince kam es zu Plünderungen. Nach einem Bericht des Portals "AyiboPost" zeigte die notorisch unterbesetzte Polizei kaum noch Präsenz in den Straßen der Hauptstadt.

Wie viele Menschen der Gewalt zum Opfer fielen, ist bisher unklar. Die "Washington Post" berichtet von Leichen auf offener Straße, die wegen der Sicherheitslage nicht bestattet werden konnten und stattdessen verbrannt wurden. Fast die Hälfte der rund elf Millionen Einwohner Haitis leidet laut UNO unter akutem Hunger. Das Gesundheitssystem stand nach Angaben vom Mittwoch des UNO-Hochkommissars für Menschenrechte, Volker Türk, am Rande des Zusammenbruchs.

Henry, ein 74-jähriger Neurochirurg, hatte die Regierungsgeschäfte übernommen, nachdem Präsident Jovenel Moïse am 7. Juli 2021 in seiner Residenz ermordet worden war. Seitdem wurden keine Wahlen abgehalten, Haiti hat derzeit weder einen Präsidenten noch ein Parlament. Die frühere Besatzungsmacht USA - der viele Haitianer und Beobachter nachsagen, den unbeliebten Henry bisher an der Macht gehalten zu haben - forderte ihn in den vergangenen Tagen auf, den politischen Übergang zu beschleunigen. UNO-Generalsekretär António Guterres rief dazu auf, die multinationale Sicherheitsmission zu finanzieren.

Angesichts der Gewalteskalation hat sich die humanitäre Lage in dem Karibikstaat dramatisch verschlechtert. Die Bewohner der Hauptstadt Port-au-Prince lebten "eingesperrt", die Stadt sei "von bewaffneten Gruppen und Gefahren umzingelt", erklärte Philippe Branchat, Leiter des Haiti-Büros der Internationalen Organisation für Migration (IOM), am Samstag. Mehr als 360.000 Menschen sind inzwischen nach IOM-Angaben innerhalb Haitis vor der Gewalt geflohen.

IOM-Vertreter Branchat meldete Gewaltausbrüche auch aus dem nordwestlich der Hauptstadt gelegenen Artibonite, Straßenblockaden aus Cap Haitien im Norden und Treibstoffmangel aus dem Süden. Staatliche Behörden und Schulen im Land sind dauerhaft geschlossen.

Auch die Gesundheitsversorgung ist nach IOM-Angaben stark beeinträchtigt. Mehrere Krankenhäuser seien von Banden angegriffen worden, ärztliches Personal und Patienten hätten Kliniken verlassen müssen - unter ihnen neugeborene Babys. Mehrere Vertreter von UNO-Organisationen in Haiti warnten in einer gemeinsamen Erklärung davor, dass 3.000 schwangere Frauen möglicherweise vom Zugang zu medizinischer Versorgung abgeschnitten seien. 450 von drohten ohne ärztliche Hilfe "tödliche Komplikationen".

ribbon Zusammenfassung
  • Bandengewalt in Haiti eskaliert: US-Botschaftspersonal evakuiert, während Banden 80% von Port-au-Prince kontrollieren und über 4.500 Häftlinge befreien.
  • Premierminister Ariel Henry, von der Dominikanischen Republik als 'unerwünscht' erklärt, kann nicht zurückkehren; Aufforderung zum Rücktritt oder es droht Bürgerkrieg.
  • Humanitäre Krise verschärft sich: Fast die Hälfte der 11 Millionen Einwohner leidet unter akutem Hunger, mehr als 360.000 Menschen sind vor Gewalt geflohen.