Wiener Schauspielhaus-Direktion startete in Weimar
Die in Berlin lebende österreichische Autorin Magdalena Schrefel hat die eigene Familienkonstellation als Ausgangspunkt für ein "Stück über anwesende und abwesende Stimmen und Körper" genommen. Der unter verschiedenen körperlichen Beeinträchtigungen leidende Bruder bekommt im Alter von 24 Jahren endlich eine Diagnose: Er hat einen Gendefekt, den außer ihn nur noch zwei andere Menschen auf der Welt haben.
Dieser Gendefekt verhindert, dass er gehen kann, schränkt die Motorik seiner Hände ein, beeinträchtigt sein Sehvermögen und wird ihm mit der Zeit komplett seine Stimme rauben. Für die Zeit danach will er vorsorgen und sich nicht nur eine, sondern gleich mehrere Ersatzstimmen besorgen. Eine raue Montagsstimme, eine sanfte Verführerstimme, eine kräftige Streitstimme. "Und eine Stimme, die außen so klingt, wie ich innen: Entschlossen, mutig, zuversichtlich." Er und seine Schwester veranstalten dafür ein Stimmen-Casting.
Schrefel hat eine inklusive Geschwistergeschichte geschrieben, die ebenso empathisch wie poetisch, ebenso klug wie selbstreflexiv ist. Zwei Menschen sind einander in großer Zuneigung, aber unter extrem erschwerenden Bedingungen verbunden. Jede Zuwendung ist auch mit Widerspruch verbunden. Dazu werden nicht nur im Zwischenmenschlichen, sondern auch im Künstlerischen grundsätzliche Fragen gestellt: Was ist Sprechen? Was ist Schreiben? Was ist Spielen?
Auch die Frage der Repräsentanz wird aufgeworfen - und Bues, die schon Schrefels "was zündet, was brennt" im Vorjahr im Schauspielhaus Graz uraufgeführt hat, löst sie beim Kunstfest Weimar mit ihrer Co-Regisseurin Anouschka Trocker durch eine großartige Besetzung: Der Filmer und Drehbuchautor Leonard Grobien, der aufgrund seiner Glasknochen im Rollstuhl sitzt, spielt den Schauspieler, der den Bruder spielt, Florentine Krafft die Schauspielerin in der Rolle der Schwester - klingt kompliziert, ist aber restlos überzeugend, immer wieder witzig und kein bisschen sentimental. Puppenspielerin Sarah Zastrau erweitert die Dialoge in manchen Szenen um eine zusätzliche Dimension.
Dazu hat Ausstatterin Heike Mondschein in die stimmungsvolle Halle des als Nebenspielstätte des Nationaltheaters Weimar fungierenden alten E-Werks eine zweiteilige Bühne gestellt, die sich problemlos in das Kosmos Theater und das Wiener Schauspielhaus transferieren lassen wird: ein kleines Podest, ein blaugrüner Fotostudio-Hintergrund, ein paar Rollstuhlrampen. In den Casting-Szenen ist Samuel Koch per Video mit dabei, weiters hat man Aufnahmen aus dem parallel in Kooperation mit Deutschlandfunk Kultur und Ö1 produzierten Hörspiel eingearbeitet.
Nach einer Stunde gab es großen Applaus für das Team, die Autorin und ihren ebenfalls anwesenden Bruder. Das neue Schauspielhaus-Quartett (neben Bues sind dies noch Martina Grohmann, Mazlum Nergiz und Tobias Herzberg, der den Abend als Dramaturg betreute) hat seinen ersten Test bestanden. Bereits heute, Sonntag, gibt es beim Kunstfest Weimar bereits die nächste österreichische Uraufführung: Die Weimarer Operndirektorin Andrea Moses inszeniert das Musiktheater "Missing in cantu - Eure Paläste sind leer" von Johannes Maria Staud (Musik) und Thomas Köck (Libretto).
(S E R V I C E - "Die vielen Stimmen meines Bruders" von Magdalena Schrefel (UA), Mitarbeit Text: Valentin Schuster, Regie: Marie Bues, Anouschka Trocker, Bühne und Kostüme: Heike Mondschein. Mit Leonard Grobien, Florentine Krafft und Sarah Zastrau. E-Werk Weimar, Weitere Vorstellungen am 2. und 3.9., 17 Uhr, www.kunstfest-weimar.de)
Zusammenfassung
- Das Wiener Schauspielhaus startet am 3. November seine erste Saison unter neuer Direktion mit Sivan Ben Yishais "Bühnenbeschimpfung".
- Doch die erste Produktion konnte bereits am Freitag besichtigt werden.
- Nicht in Wien, sondern in Weimar brachte Co-Direktorin Marie Bues einen Text von Magdalena Schrefel zur Uraufführung.
- E-Werk Weimar, Weitere Vorstellungen am 2. und 3.9., 17 Uhr, www.kunstfest-weimar.de)