Voges: "Das coole Publikum geht ins Volkstheater"
Junge Studierende der Wiener Sprachkunst widmen sich Gerhard Roths "Eine Reise in das Innere von Wien" und schreiben ihn für die nächste Gesellschaft fort. Im APA-Gespräch charakterisiert Voges das neue Volkstheater-Publikum, gibt Einblicke in die geplante "Gameshow" namens "Du musst dich entscheiden!" und erklärt, warum er es noch nicht geschafft hat, "Scheitern als Schönheit" zu begreifen.
APA: Sie haben nun - nach der Generalsanierung und Coronalockdowns - die erste volle Spielzeit Ihrer Intendanz hinter sich. Wie läuft's?
Kay Voges: Ich habe das Gefühl, das Volkstheater ist jetzt endlich wieder in der Stadt angekommen. Der Betrieb läuft, wir freuen uns über eine Verdreifachung unserer Abonnenten und eine Auslastung von 68 Prozent. Wir bekommen das Feedback, dass unser Ensemble auf der Bühne mit aller Leidenschaft spielt und dass wir bekannt dafür sind, ein mutiges, reichhaltiges Theaterprogramm zu geben. Eines der Mottos der nächsten Jahre steht auch auf dem Cover für die nächste Spielzeit: "mehr!". Nächstes Jahr wird es noch mehr werden als in diesem Jahr, auch noch mehr Wien. Das ist das andere Motto, das wir haben: "Wien bleibt Wien und Wien bleibt nicht Wien." Und das Volkstheater bleibt das Volkstheater. Wir bleiben Tradition verbunden und werden Tradition hinterfragen und neu denken.
APA: Welche Fragen stellen Sie sich?
Voges: Einerseits: Wo kommen wir her? Diese Frage stellt Raphaela Edelbauer mit dem Roman "Die Inkommensurablen", den wir dramatisieren. Darin geht es um den Vorabend des Ersten Weltkriegs in Wien. Dann fragen wir uns - etwa in "Du musst dich entscheiden!" -, wo wir gerade stehen und widmen uns der Debatte um die Transformationsprozesse der Gegenwart. Und schließlich fragen wir uns, wie die Zukunft aussehen könnte, zum Beispiel in "Die Angestellten", einem Visual Poem über Arbeit im 22. Jahrhundert. So haben wir eine große, ernsthafte, aber dann doch nicht lustfreie, sondern eher lustvolle Auseinandersetzung mit dem Ort und der Zeit.
APA: Das hören Sie als Nicht-Österreicher wahrscheinlich ständig, aber: Wie ist es Ihnen ergangen, seit Sie in Wien leben? Verstehen Sie die Stadt mittlerweile?
Voges: Ja, ich würde sagen, ich bin jetzt in Wien angekommen. Es war nicht einfach, während eines Lockdowns in eine neue Stadt zu kommen. Jetzt ist der Austausch wirklich da mit den Zuschauerinnen und Zuschauern, aber auch mit Institutionen, mit denen wir kooperieren. Die Nähe zu den Menschen der Stadt, glaube ich, haben wir jetzt. Und uns ist klarer, für wen wir Theater machen.
APA: Wie würden Sie dieses Publikum charakterisieren?
Voges: Interessant ist, dass 34 Prozent der Karten an Nicht-Vollpreis-Zahler gehen. Das heißt, das sind unter anderem Menschen unter 27. Unser Publikum ist jünger geworden, und ich glaube auch, wir haben durch unser Spektrum - von politischen Diskursen über Tanz, große Konzerte, Grenzüberschreitungen zur bildenden Kunst und gegenwärtige Dramatik - viele neue Interessengruppen zu uns holen können. Und ich würde kühn behaupten: Das coole Publikum Wiens geht ins Volkstheater.
APA: Sie schreiben im Programmheft, dass das Volkstheater "ein Theater in Suchbewegung" ist. Was verstehen Sie darunter?
Voges: Die Theaterkunst ist eine sich stetig verändernde Kunst, die immer auf die Gegenwart Bezug nimmt. Sie liegt ja nicht im Bücherregal über Hunderte Jahre, sondern sie findet immer nur in einem Augenblick statt. Wir fragen uns, wie könnte es heute gehen? Wie spielen wir hier auf der großen Bühne, in den kleinen Spielstätten, wie erzählen wir die Geschichten, die uns wirklich jetzt berühren?
APA: Einer Suchbewegung immanent ist ja auch immer wieder das Scheitern. Wie gehen Sie damit um?
Voges: Eigentlich habe ich tief im Herzen den Spruch "Scheitern als Chance", oder wie Beckett sagt: "Scheitern, noch mal scheitern, besser scheitern". Das muss sein. Wir schaffen Prototypen, und wenn wir mutig sein wollen, dann kann es auch daneben gehen. Wenn man dann allerdings scheitert, wie jetzt, als die Premiere vom "Eingebildeten Kranken" nicht rauskam, ist das schon extrem schmerzhaft. Man darf deswegen nicht ängstlich werden, aber das Scheitern als Schönheit zu empfinden, habe ich noch nicht geschafft ...
APA: Sie setzen neben großen heimischen Namen wie Bachmann und Jelinek auch auf junge heimische Stimmen wie etwa Raphaela Edelbauer oder Olivia Axel Scheucher ...
Voges: Das ist die lange Tradition des Volkstheaters. Wir haben hier Schnitzler, Schwab, Jelinek in den ersten Phasen ihres Schaffens gezeigt. Dass wir das fortsetzen und die jungen österreichischen Stimmen präsentieren, das ist vom ersten Tag so. Dass auch Lydia Haider hier bei uns war und dass wir jetzt weitere neue Stimmen im Programm haben, freut mich.
APA: Apropos Lydia Haider. Ihre Stücke waren massiven Angriffen der Wiener ÖVP ausgesetzt. Wie sind Sie damit umgegangen?
Voges: Ich glaube, dass sich die ÖVP hier mit ihren Anfeindungen selbst ins Aus geschossen hat. Das ist von einer solchen Kulturlosigkeit, wie dort gelogen und polemisiert wurde, dass man nur hoffen kann, dass die ÖVP kulturpolitisch weiterhin nichts zu sagen haben wird in Wien.
APA: Was auffällt: Das Volx Margareten wird nicht mehr bespielt. Warum?
Voges: Wir haben eine schwierige Probebühnensituation. Bis wir einen geeigneten Ort dafür finden, fungiert das Volx als Probebühne. Die Suche ist allerdings bereits in den letzten Zügen, das freut mich sehr. Wenn die Probenbühnensituation geklärt ist, werden wir auch klären, was mit diesem Raum weiter passieren wird.
APA: Auch bei den Bezirken gibt es eine Änderung. Statt Calle Fuhr wird die Schiene nun von Lisa Kerlin geleitet.
Voges: Genau. Calle Fuhr will wieder mehr als freier Regisseur und Autor arbeiten. Anlässlich des 70-Jahr-Jubiläums werden wir zusätzlich zu unserem Tourneeprogramm, das vier Produktionen beinhaltet - "Frankenstein", "Amadeus" in Ko-Produktion mit Bronski & Grünberg, "Die 39 Stufen" nach Alfred Hitchcock und "Elektra" in einer Neubearbeitung - mit dem "Kleinen Prinzen" erstmals ein Kinderstück herausbringen für die nächste Generation, um ihr direkt vor der Haustür einen kulturellen Erstkontakt zu ermöglichen. Aber wir haben auch einige Menschen verloren, die aus Altersgründen nicht mehr zu uns kommen können. Also gehen wir zu ihnen in die "Häuser zum Leben", um dort szenische Lesungen von Schnitzlers "Lieutenant Gustl" machen.
APA: Ihr Bruder, Nils Voges, wird mit seinem Kollektiv "sputnic" Edelbauers "Die Inkommensurablen" zur Uraufführung bringen. Warum haben Sie ihn eingeladen?
Voges: "sputnic" hat an vielen Häusern in Deutschland gearbeitet, und sie sind dafür bekannt geworden, dass sie Live-Animation-Cinema machen. Die Schauspielerinnen und Schauspielerwerden animieren, sie werden sprechen, sie werden spielen und gleichzeitig wird ein Animationsfilm gezeigt. Das ist eine besondere Erzählweise, die glaube ich noch niemand hier in Wien zuvor gesehen hat. Und das passt so gut zu diesem großen Roman von Edelbauer, die uns so in das alte Wien entführt.
APA: Wie steht es finanziell um das Volkstheater?
Voges: Die Einnahmeziele für die aktuelle Spielzeit haben wir bereits übertroffen. Die hohen Energiekosten, die Inflation und damit zusammenhängende Tariferhöhungen stellen uns gleichzeitig - wie den gesamten kulturellen Sektor - vor Herausforderungen. Wir sind aber im Gespräch mit unseren Fördergebern, und ich bin ganz hoffnungsfroh, dass wir Hilfe bekommen für den Inflationsausgleich sowie die Tariferhöhungen. Die Signale von Bund und Stadt sind sehr positiv und geben Hoffnung.
(Das Gespräch führte Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - www.volkstheater.at)
Zusammenfassung
- Unter dem Motto "mehr!" hat Volkstheater-Direktor Kay Voges heute, Mittwoch, die Spielzeit 2023/24 vorgestellt, die einen Wien-Schwerpunkt sowie österreichische Dramatik beinhaltet.
- Die Stücke mit Wien-Bezug spannen dabei einen historischen Bogen, der vom 18. Jahrhundert über das 20. Jahrhundert (Claudia Bauer dramatisiert nach "humanistää!"
- Bachmanns "Malina", Edelbauers "Die Inkommensurablen" werden uraufgeführt) bis in die Gegenwart schlägt.