Reichenau zeigt Bernhard: "Der Ignorant und der Wahnsinnige"
Das 1972 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführte und dann abgesetzte Stück wird seither mit dem legendären Notlicht-Skandal verbunden. "Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt, kommt ohne mein Schauspiel aus", hatte Bernhard damals seinem Ärger Ausdruck verliehen über den Umstand, dass die Notbeleuchtung am Schluss nicht ausgeschaltet werden durfte. In Reichenau waren es wohl keine zwei Minuten, aber für einige Momente war es tatsächlich finster.
Drei Hauptpersonen - der medizinische Schwadronagen schwingende Doktor, die Starsopranistin als Königin der Nacht und ihr blinder, trunksüchtiger Vater - steuern einem gemeinsamen Kollaps entgegen. Das Ereignis dieser Produktion ist der 86-jährige Martin Schwab als Vater. Wie er den Tiraden des Arztes über gehirnchirurgische Praktiken teils mit Interesse, teils mit Ablehnung folgt, wie er dem Auftritt seiner Tochter entgegenfiebert und deren spätes Erscheinen mit Vorwürfen quittiert, ist höchste Schauspielkunst in intensiver mimischer und körpersprachlicher Präsenz.
Als Doktor hat Stefan Jürgens viel Text zu bewältigen und tut dies mit Bravour. Julia Stemberger macht die nur oberflächlich verdeckte Existenzkrise der "Koloraturmaschine" zwischen Versagensängsten und privatem Druck glaubwürdig. Als dienstbare Garderobiere Frau Vargo im weißen Mantel liefert Therese Affolter auch in einer scheinbar unspektakulären Nebenrolle eine kleine psychologische Studie, wenn sie dem Arzt kurze, aber sehnsuchtsvolle Blicke zuwirft: eine Hoffnung, die sich wohl nie erfüllen wird. Und Dirk Nocker hat einen dezenten Auftritt als Kellner bei den "Drei Husaren", wo zu dritt getafelt wird.
Viele Ingredienzien späterer Bernhard-Stücke sind bereits enthalten. Gerade deshalb empfindet man das Werk 52 Jahre nach der Uraufführung - trotz kleiner Seitenhiebe auf Journalisten, Künstlertum und das Theater - als erstaunlich zahm. Hier tobt noch nicht der spätere Bernhard gegen alpenländischen, katholischen und nationalsozialistischen Stumpfsinn, vielmehr fühlt man sich in die Zeit des absurden Theaters zurückversetzt, als eher existenzialistischer Weltschmerz verhandelt wurde. Da kann es sich schon ziemlich dahinziehen, und es fällt gar nicht schwer, dem Schlusswort der Königin zuzustimmen: "Erschöpfung, nichts als Erschöpfung!"
(Von Ewald Baringer/APA)
(S E R V I C E - Thomas Bernhard: "Der Ignorant und der Wahnsinnige". Regie: Hermann Beil. Mit Martin Schwab, Stefan Jürgens, Julia Stemberger, Therese Affolter und Dirk Nocker. Festspiele Reichenau. Weitere Aufführungen bis 4. August, Information und Tickets: www.festspiele-reichenau.at)
Zusammenfassung
- Die dritte Produktion der Festspiele Reichenau ist 'Der Ignorant und der Wahnsinnige' von Thomas Bernhard, inszeniert von Hermann Beil.
- Martin Schwab beeindruckt mit 86 Jahren als blinder, trunksüchtiger Vater durch intensive Schauspielkunst.
- Das Stück, das 1972 uraufgeführt wurde, enthält viele Elemente späterer Bernhard-Werke, wirkt jedoch im Vergleich erstaunlich zahm.