EU-Kommission präsentiert Verteidigungsstrategie für Europa
Europa müsste gerüstet für eine Konfrontation mit Russland sein: "Russland stellt eine große strategische Bedrohung auf dem Schlachtfeld dar", warnt die Kommission in ihrem Weißbuch zur Verteidigung. Das Land sei bereits der mit Abstand am stärksten bewaffnete europäische Staat und betreibe nun eine Kriegswirtschaft. Russland sei "auf absehbare Zeit eine grundlegende Bedrohung für die Sicherheit Europas". Wenn es seine Ziele in der Ukraine erreiche, würden seine territorialen Ambitionen noch weiter reichen, so die Kommission. Das Weißbuch will "konkrete Optionen für die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten aufzeigen, um ihre Bestände an Munition, Waffen und militärischer Ausrüstung dringend aufzufüllen".
"Die Zeit der Friedensdividende ist längst vorbei. Die Sicherheitsarchitektur, auf die wir uns verlassen haben, kann nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden. Europa ist bereit, einen Schritt weiter zu gehen. Wir müssen in die Verteidigung investieren, unsere Fähigkeiten stärken und einen proaktiven Ansatz für die Sicherheit wählen", so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas betonte in der Pressekonferenz am Mittwoch, dass die EU-Staaten das Steuer bei der Verteidigung in der Hand halten müssten. Sie betonte aber, es sei "schneller und billiger, wenn sie zusammenarbeiten" würden. Auch die Ukraine solle sich beteiligen: Europa könne "viel von der ukrainischen Erfahrung am Schlachtfeld lernen". Im Weißbuch ist auch eine verstärkte militärische Unterstützung für die Ukraine vorgesehen, wie mehr Munitionslieferungen.
Gemeinsamer Waffeneinkauf geplant
Die geplante gemeinsame Beschaffung von Waffen, Munition und weiteren Verteidigungsgütern soll nicht nur die Verteidigungsbereitschaft Europas, sondern auch die europäische Verteidigungsindustrie stärken. Der EU-weite Verteidigungsmarkt soll etwa durch einfachere Vorschriften gefördert werden. Die militärische Mobilität innerhalb Europas soll effizienter werden, um besser auf Worst-Case-Szenarien vorbereitet zu sein. Zudem ist eine Stärkung der Außengrenzen, insbesondere der Landgrenzen zu Russland und Weißrussland, geplant.
Verstärkt werden soll auch die Zusammenarbeit mit Drittstaaten: Diese sei "auch der Schlüssel zur Bewältigung der Herausforderungen für die europäische Verteidigung und die europäische Verteidigungsindustrie, einschließlich der Diversifizierung der Lieferanten und der Verringerung der Abhängigkeiten", heißt es im Text.
Milliarden für Aufrüstung
Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten bereits bei einem Sondergipfel Anfang März Vorschläge der Kommission begrüßt, um die 800 Milliarden Euro für Aufrüstungsprojekte zu mobilisieren. Mit ihrem "ReArm Europe Plan" will die Kommission den EU-Staaten erlauben, für ihre Verteidigung neue Schulden zu machen, ohne dabei ein EU-Defizitverfahren zu riskieren. Zudem ist ein neuer EU-Fonds mit 150 Milliarden Euro an Krediten für Verteidigungsinvestitionen geplant. Damit könnten die Mitgliedstaaten etwa Luft- und Raketenabwehrsysteme, Artilleriesysteme, Raketen, Munition, Drohnen Cyberabwehrsysteme gemeinsam einkaufen.
Die Kommission schlägt nun vor, dass ab 2025 mit einer Laufzeit von vier Jahren rund 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung zusätzlich für Verteidigung ausgegeben werden dürfen, ohne dafür ein Defizitverfahren zu riskieren. Laut Maastricht-Kriterien wird dieses eingeleitet, wenn das Budgetdefizit über 3 Prozent des BIP liegt. Für Österreich, dass im Jänner mit einem neuen Plan zur Schuldenreduktion gerade noch einem solchen Verfahren entkommen ist, könnte diese "Aktivierung der nationalen Ausnahmeklausel" Vorteile bringen.
Der neue SAFE-Fonds in Höhe von 150 Mrd. Euro soll "den Mitgliedstaaten ermöglichen, ihre Verteidigungsinvestitionen sofort und massiv zu erhöhen", so die Kommission. Die Mittel sollen auf Grundlage nationaler Pläne und auf Antrag an interessierte Mitgliedstaaten fließen. Die Auszahlungen sollen laut SAFE-Verordnung in Form von günstigen Darlehen mit langer Laufzeit erfolgen. Die Darlehen sollen durch den EU-Haushalts gedeckt werden.
Brisantes Thema USA
Wesentlich weniger deutlich als zunächst von der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas und EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius vorgesehen, soll in dem Weißbuch vor Abhängigkeiten von den USA gewarnt werden. In einem früheren Entwurf hatte es nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur zu Abhängigkeiten von den USA konkret geheißen, die Vereinigten Staaten könnten möglicherweise die Nutzung von Schlüsselkomponenten für die militärische Einsatzfähigkeit einschränken oder sie sogar unterbinden. Der einzige Weg, Abhängigkeiten zu überwinden, bestehe deswegen darin, die notwendigen Fähigkeiten durch gemeinsame europäische Rüstungsprojekte zu entwickeln.
"Traditionelle Verbündete und Partner, wie die Vereinigten Staaten, verlagern ihren Schwerpunkt ebenfalls von Europa auf andere Regionen der Welt", heißt es nun. Aber: "Ein starkes transatlantisches Band ist nach wie vor entscheidend für die europäische Verteidigung." Die Vereinigten Staaten würden fordern, dass Europa mehr Verantwortung für seine eigene Verteidigung übernehme. Diese Bemühungen sollten weiter ausgebaut werden und auf der umfassenden transatlantischen Lieferkette aufbauen, die für beide Seiten von Vorteil sein sollte.
Stocker will Vorschläge im Detail prüfen
Österreich begrüßt nach Worten von Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) die von der EU-Kommission vorgelegten Vorschläge für die Aufrüstung Europas grundsätzlich. Man werde in den nächsten Tagen noch prüfen, welche Auswirkungen dies auf Österreich habe und wie Österreich damit umgehen werde, sagte der Bundeskanzler am Mittwoch im EU-Hauptausschuss des Parlaments vor dem bevorstehenden EU-Gipfel.
Stocker betonte, es sei klar, dass die "Zeitenwende in der EU angekommen" sei. "Die Welt wird gefährlicher und jedes Land in Europa braucht auch einen robusten Schutz." Dies gelte auch für Österreich, daher sei eine "aktive Beteiligung an der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in unserem ureigenstem Interesse, wenn wir den höchsten Grad an Sicherheit erreichen wollen". Dies wolle Österreich auf Basis der Neutralität tun. Es wäre aber ein gefährlicher Trugschluss zu glauben, dass alleine die Neutralität sie Sicherheit gewährleisten könne, ohne das Land auch verteidigen zu können. Die sich bietenden Möglichkeiten gelte es zu nutzen.
Regierungsparteien zufrieden, FPÖ poltert
Reinhold Lopatka, ÖVP-Delegationsleiter im Europaparlament, begrüßte den Plan: "Diese Kooperation ist wie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU mit unserer Neutralität vereinbar und im Interesse unserer Sicherheit und sollte künftig weiter verstärkt werden. Wir sind militärisch neutral aber in der EU politisch solidarisch mit den anderen Mitgliedstaaten und haben denen gegenüber auch eine Beistandsverpflichtung, falls sie angegriffen werden sollten."
SPÖ-Delegationsleiter Andreas Schieder betonte: "Aufgrund der geopolitischen Lage müssen wir selbstverständlich in Europas Sicherheit investieren. Aber Europas Sicherheit kann nicht allein durch höhere Verteidigungsausgaben gewährleistet werden - wir brauchen eine Strategie, die auch Wachstum, industrielle Unabhängigkeit und Investitionen in die Infrastruktur umfasst. Waffen aus den USA zu kaufen, macht uns nur abhängig - wir brauchen gemeinsame europäische Lösungen, mehr Effizienz und mehr Interoperabilität." Putin führe längst einen hybriden Krieg gegen Europa - "wir müssen schneller werden, entschlossener handeln und unsere gemeinsame Außenpolitik effektiver gestalten", so Schieder.
"Die EU setzt alles daran, sich selbst in eine Kriegs- und Schuldenunion zu verwandeln", kritisierte der freiheitliche Delegationsleiter Harald Vilimsky. Die zentralen wirtschaftlichen Regeln würden bewusst verwässert, um die Rüstungsausgaben massiv zu steigern. "Von der Leyen opfert nicht nur die wirtschaftliche Stabilität Europas, sondern treibt die EU auch sicherheitspolitisch in eine brandgefährliche Eskalation", warnte Vilimsky.
"Wir begrüßen, dass es nun Einigkeit darüber gibt, den vielfältigen Bedrohungen unserer Sicherheit entschlossen und gemeinsam zu begegnen", teilte NEOS-Delegationsleiter Helmut Brandstätter mit. Die engere Zusammenarbeit der europäischen Verteidigungsindustrie sei ein richtiger Schritt. "Entscheidend wird sein, die technologische Basis Europas gemeinsam zu stärken, und auch hier soll Österreich seinen Beitrag leisten", forderte Brandstätter.
Zusammenfassung
- Die EU-Kommission hat in Brüssel eine Verteidigungsstrategie vorgestellt, die eine Aufrüstung Europas vorsieht, insbesondere bei Luftverteidigung und Raketenabwehr.
- Ein neuer EU-Fonds mit 150 Milliarden Euro soll die Verteidigungsinvestitionen der Mitgliedstaaten unterstützen, ohne ein Defizitverfahren zu riskieren.
- Russland wird als strategische Bedrohung für Europa betrachtet, was die Notwendigkeit einer verstärkten Verteidigungspolitik unterstreicht.
- Die gemeinsame Beschaffung von Waffen und Munition soll die europäische Verteidigungsindustrie stärken und Abhängigkeiten reduzieren.
- Österreich begrüßt die Vorschläge grundsätzlich, prüft jedoch deren Auswirkungen auf seine Sicherheitspolitik und die Vereinbarkeit mit der Neutralität.