"Pinocchio" sucht in Wien Menschlichkeit statt Menschwerdung
Als "umherziehende Band" wird die Künstlertruppe im Programmheft zum Stück bezeichnet. Eine Art Heimat hat der im Los Angeles gegründete "Moved by the Motion"-Zusammenschluss in den vergangenen Jahren am Schauspielhaus Zürich gefunden. Ebenda ist Wu Tsang 2019 zur Hausregisseurin geworden. Ihr "Pinocchio" fand dort im vergangenen Herbst seine Premiere.
Seinen Ausgangspunkt nimmt der moderne Take zu der weltbekannten Geschichte des italienischen Schriftstellers Carlo Collodi aus dem Jahr 1881 um die Holzpuppe "Pinocchio" - auf Deutsch übersetzt "Pinienauge" - im Wald, wo jener Baum steht, aus dem der alte Gepetto (Vincent Basse) das Holz für das Püppchen schlägt. Als Erzähler hat sich das Team um Tsang eine Amsel (Kay Kysela) und eine Schnecke namens "Snail" (Deborah Macauley) ausgedacht. Vor allem Kysela versteht es gekonnt und mit viel Witz, den Kontakt zum jungen Publikum herzustellen. Seinen Redefluss konterkariert die langsame Snail - da stören auch ein paar kleine sprachliche Stolperer der glitzernd gewandeten Macauley kaum. Etwas gewöhnungsbedürftig sind zunächst die Tanzeinlagen des hünenhaften Schauspielers Josh Johnson als die Fee "Blue".
Der kleine Bub - gespielt von der Performance Künstlerin Tosh Basco - zieht dann natürlich in die Welt hinaus, und findet ihre Versuchungen und Verirrungen. Die Bühne von Nina Mader erweist sich als wandelbare Projektionsfläche für die vielen verschiedenen Stationen, die Pinocchio durchläuft. Musikalisch mitgetragen wird das von der internationalen Truppe überaus durchdacht und routiniert dargebotene rund 70-minütige Stück von Asma Maroof. Da gibt es von ätherischen Sounds bis hin zu härteren Club-Rhythmen so einiges zu vernehmen.
Am stärksten im Vordergrund steht der musikalische Teil, wenn es darum geht, die diversen Versuchungen - von der Berühmtheit bis zum Shopping-Rausch - für das Püppchen darzustellen. Hier eingewoben wird viel Kapitalismuskritik und Kopfschütteln darüber, wie Menschen ihre unbedingte Individualität auszuleben versuchen und die Umwelt links liegen lassen. Demgegenüber stellt das Künstlerkollektiv geschickt die ursprüngliche Umgebung, aus der das zur Puppe zurechtgezimmerte Holzscheit kommt. Pinocchio selbst bleibt in der Verkörperung von Basco betont hölzern - wächst eher im Inneren als äußerlich wahrnehmbar.
Alles steuert auf das Wiedersehen mit seinen Vater Gepetto im Walmagen - wobei das Tier allerdings mehr einem Riesenhai ähnelt - hin, das dann doch ein Stück weit beiläufig wirkt. Letztlich holt das Ensemble zu einem doch etwas schablonenhaft geratenen Plädoyer zur Verbundenheit von allem und jedem und zur Rückkehr zur ultimativ verwobenen Natur aus. Ganz mittragen kann die moderne Bühnengestaltung diesen emotionalen Wechsel zwar nicht mehr, das versöhnliche Element wurde vom Wiener Publikum aber gerne angenommen. So blieb am Ende lautstarker Applaus für die zum Nachdenken anregende und durchaus sehenswerte Produktion.
(S E R V I C E - "Pinocchio" nach Carlo Collodi. Produktion: Moved by the Motion (Wu Tsang, Tosh Basco, Asma Maroof, Josh Johnson, Patrick Belaga) im Rahmen der Wiener Festwochen im Wiener Volkstheater. Mit Tosh Basco, Vincent Basse, Josh Johnson, Tabita Johannes, Kay Kysela, Deborah Macauley, Sasha Melroch, New Kyd, Benjamin Radjaipour und Yèinou Avognon, Bewegungsregie: Tosh Basco, Choreografie: Josh Johnson, Musik: Asma Maroof, Text: Sophia Al-Maria Bühne Nina Mader. Weitere Vorstellungen am 4. und 5. Juni. https://www.festwochen.at/pinocchio)
Zusammenfassung
- Mit einem einfallsreichen und zeitgeistigen späten Theaternachmittag wartete am Samstag die Performancegruppe "Moved by the Motion" im Wiener Volkstheater auf.
- Die Regisseurin, Filmemacherin und Performance-Künstlerin Wu Tsang brachte im Rahmen der Wiener Festwochen mit "Pinocchio" einen gut abgehangenen Kinder- und Jugendtheaterstoff in moderner Deutung auf die Bühne.
- (S E R V I C E - "Pinocchio" nach Carlo Collodi.