Oper "Justice" zum Tangente-Auftakt als elegisches Rührstück
Der Plot ist in einem kongolesischen Dorf angesiedelt, wo sich 2019 ein grauenhafter Unfall ereignete, als ein mit Säure beladener Lastkraftwagen verunglückte. Die Folge: Über 20 Tote, zahlreiche Verletzte und schwere Umweltschäden. Diese Katastrophe wird auch im Bühnenbild anhand von Videoeinspielungen dokumentiert: grässliche Bilder von verätzten, zersetzten Körpern. Das lässt nicht kalt.
Wir befinden uns handlungsmäßig fünf Jahre später bei einem Dinner, bei dem die Gründung einer neuen Schule gefeiert wird, die von jenem Schweizer Unternehmen eröffnet wird, das am seinerzeitigen Unglück beteiligt war. Denn die Schwefelsäure wurde für die Kobaltgewinnung benötigt. Die Schuldfrage wurde offenbar bis heute gerichtlich nicht geklärt, die Justiz ist korrupt. Die Veranstaltung - im Hintergrund stets der umgestürzte Lkw - kippt allmählich in ein Gedenken an all jene Menschen, die damals Schaden genommen haben.
Das hätte als Theaterstück möglicherweise Potenzial. Doch die opernhafte Darstellung verleiht der Thematik eine pseudodramatische Gestik, die dem Anliegen nichts Gutes tut. Die drei Ebenen Video, Musik und Erzählung ergänzen das Libretto nicht und bauen auch keine zusätzliche Schichten auf, sondern untermalen lediglich, was ohnehin schon deutlich wurde. Parra unterlegt das gebärdenreiche Geschehen mit einem expressiven Klangteppich, dem die behauptete Verwendung afrikanischer Musikelemente zumindest beim ersten Hören kaum anzumerken ist. Da elektrisieren eher die allerdings kurzen Zwischenspiele des Gitarristen Kojack Kossakamvwe.
Natürlich ist die Frage nach Verantwortung von allgegenwärtiger zentraler Bedeutung, ebenso nach dem spannungsreichen Verhältnis zwischen multinationalen Konzernen und lokaler Bevölkerung, nach der Bewältigung traumatisierender Erfahrungen, nach der Aufarbeitung geschichtlicher Vorgänge. Doch all dies sollte weder im Stil eines üblen Sensationsjournalismus erfolgen, der mit allen verfügbaren Schwarz-weiß-Klischees nach sentimentaler Betroffenheit schielt, noch in der Art belehrenden Schulfunks.
"Es gibt eine Tendenz, eine gewisse afrikanische Tradition einer westlichen Moderne gegenüberzustellen, und das ist letztlich eine koloniale Praxis", wird Mwanza Mujila im Programmheft zitiert. Doch genau das passiert kurioserweise in dieser im Jänner uraufgeführten Produktion des Grand Théâtre de Genève. Das ist schade, denn Gerechtigkeit einzufordern wäre durchaus angebracht, beileibe nicht nur im gegenständlichen Fall.
Positiv anzumerken sind jedenfalls die stimmlichen solistischen Leistungen von Peter Tantsits, Idunnu Münch, Katarina Bradić, Willard White, Simon Shibambu, Serge Kakudji, Cyrielle Ndjiki Nya und Lauren Michelle. Und auch dem Tonkünstler-Orchester NÖ unter der Leitung von Titus Engel gebührt Anerkennung für die gewiss vorhandene Mühe der Partitur-Aneignung.
(Von Ewald Baringer/APA)
(S E R V I C E - Oper "Justice" von Hèctor Parra und Fiston Mwanza Mujila. Regie: Milo Rau. Musikalische Leitung des Tonkünstler-Orchester NÖ: Titus Engel. Bühne: Anton Lukas. Kostüme: Cedric Mpaka. Mit Peter Tantsits, Idunnu Münch, Katarina Bradić, Willard White, Simon Shibambu, Serge Kakudji, Cyrielle Ndjiki Nya, Lauren Michelle und Kojack Kossakamvwe (E-Gitarre). Festspielhaus St. Pölten im Rahmen der Tangente St. Pölten. www.tangente-st-poelten.at)
Zusammenfassung
- Die Oper 'Justice' von Hèctor Parra und Fiston Mwanza Mujila, uraufgeführt im Jänner im Grand Théâtre de Genève, thematisiert eine Tragödie in einem kongolesischen Dorf, bei der 2019 ein Lkw mit Säure verunglückte und über 20 Menschen starben.
- Trotz hoher Erwartungen kritisiert die Inszenierung im Festspielhaus St. Pölten die pseudodramatische Darstellung und die kaum wahrnehmbaren afrikanischen Musikelemente.
- Positiv hervorgehoben werden die solistischen Leistungen von Künstlern wie Peter Tantsits und Idunnu Münch sowie das Tonkünstler-Orchester NÖ unter der Leitung von Titus Engel.